Zeigen, dass man sich Sorgen macht
Wie gelingt der Ausstieg aus einer Essstörung? Was können und sollen Freunde tun, wenn sie bei ihren Freunden Aktivitäten in einschlägigen Foren beobachten?
Scout sprach mit Shirley Hartlage von Waage Hamburg e. V., einer zentralen Anlauf- und Hilfsstelle für Menschen mit Essstörungen.
scout: Wie soll das Umfeld auf eine Essstörung reagieren? Was können Angehörige und Freunde tun?
Hartlage: Wenn Angehörige, Freunde oder Lehrer eine Essstörung vermuten, sollten sie sich zunächst richtig über Essstörungen informieren. Im Verhalten gegenüber den Betroffenen empfehlen wir: den Betroffenen zeigen, dass sie sich Sorgen machen und dass sie ihnen wichtig sind; Geduld haben und zuhören; die Betroffenen wissen lassen, dass sie da sind, wenn sie gebraucht werden. Man sollte ein offenes Gespräch suchen, aber nicht erzwingen. Es ist extrem wichtig, sehr behutsam vorzugehen, keinen Druck auszuüben, keine Vorwürfe zu machen und jegliche Schuldzuweisungen zu vermeiden. Man sollte nicht die Rolle des Therapeuten übernehmen und sich mit gut gemeinten Ratschlägen zurückhalten.
scout: Wie direkt soll das Problem angesprochen werden?
Hartlage: Es ist wichtig, keine Wertungen über das Aussehen oder das Gewicht der Betroffenen abzugeben. Stattdessen müssen sie ermutigt werden, Hilfe von außen anzunehmen. Eine beste Freundin kann unterstützen, indem sie vielleicht zu einem ersten Beratungsgespräch mitkommt. Die Erkrankten müssen aber selbst entscheiden, ob sie sich helfen lassen wollen. Wer auf solche Weise Hilfe leistet, muss sich aber im Klaren sein, welche möglichen Reaktionen provoziert werden können: Die Betroffenen streiten alles ab, können sehr wütend werden. Damit können jugendliche Freunde schnell überfordert sein.
scout: Und dann?
Hartlage: Die Chance für eine erfolgreiche Behandlung oder Therapie steigt, wenn Angehörige, Freunde oder Partner sich selbst beraten lassen. Das ist in allen Beratungsstellen möglich, und zwar vertraulich und kostenlos. Die Beratung ist auch online und per Mail möglich, um die Schwelle möglichst niedrig zu halten.
Wichtig sind diese Kontaktaufnahmen übrigens auch, um abzuklären, ob größere gesundheitliche Risiken aufgrund der Essstörung bestehen. Denn dann müssen die Betroffenen vor allem schnell ermuntert werden, sich in ärztliche Behandlung zu begeben.
scout: Woher kommt das Krankheitsbild?
Hartlage: Essstörungen sind psychosomatische Erkrankungen mit Suchtcharakter. Sie sind durch viele Einflüsse bedingt: Persönliche Merkmale wie Perfektionismus und Selbstunsicherheit spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung ebenso eine Rolle wie familiäre Hintergründe. Es sind Erkrankungen mit gravierenden psychischen und physischen Begleiterscheinungen. Eine Essstörung ist eine selbstzerstörerische Bewältigungsstrategie für tiefer liegende Schwierigkeiten. Wir verstehen Essstörungen als Lösungsversuche für innerpsychische Konflikte – als Versuch, mit Gefühlen und Lebenssituationen fertigzuwerden, die sonst kaum auszuhalten wären. Es sind also meist schon Probleme beispielsweise im familiären Bereich vorhanden oder andere psychische Erkrankungen wie Depressionen.
scout: Müssen einer Essstörung denn immer schwerwiegende psychische Probleme zugrunde liegen?
Hartlage: Davon gehen wir aus. Es gibt aber Umstände, die den Einstieg erleichtern oder wahrscheinlicher machen. Diäten bilden zum Beispiel oftmals den Einstieg in die Essstörung, den ersten fünf abgehungerten Kilos folgen weitere oder aber der Frust, weil alles rasch wieder zugenommen wird, entlädt sich in Ess-Brech-Anfällen. Das natürliche Gefühl für Hunger und Sättigung geht verloren, die Körperwahrnehmung ist gestört. Deshalb sind Mütter, die regelmäßig Diäten halten, sehr problematische Vorbilder.
Auch biologische Faktoren tragen ihren Teil zur Entstehung von Essstörungen bei. So wird derzeit der Einfluss verschiedener Hormone erforscht. Und es scheint auch eine genetische Veranlagung für Essstörungen zu geben.
scout: Wer ist für Essstörungen besonders anfällig?
Hartlage: Viele Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft machen sich Sorgen um ihr Essverhalten, ihre Figur und ihr Gewicht. Kritisch wird es, wenn diese Sorgen das Leben bestimmen und beeinträchtigen. Vor allem zu Beginn der Essstörung sind magersüchtige Mädchen und Frauen häufig stolz darauf, ihr Essverhalten und ihren Körper so „gut im Griff zu haben“. Sie fühlen sich dadurch stark und unabhängig. Die Figur und das Körpergewicht haben großen Einfluss auf die Selbstbewertung. Oft äußern die Mädchen und Frauen Gedanken wie „Nur wenn ich dünn bin, bin ich beliebt“ oder „Wenn ich zunehme, bin ich wertlos“. In vielen Lebensbereichen haben Essgestörte übrigens häufig hohe, perfektionistische Ansprüche und erbringen trotz ihres desolaten körperlichen Zustandes oft hervorragende Leistungen in Schule, Beruf und Sport.