Kinderbuch-Apps: Die neue Art des Vorlesens?
Melanie Würtz ist seit April 2018 Projektmanagerin bei der Stiftung Lesen. Sie arbeitet im Bereich „Leseempfehlungen und Ehrenamt“, dort ist ihr Schwerpunkt das Vorlesen für Kinder.
scout: Frau Würtz, im einen Arm das kuschelnde Kind, in der anderen Hand das Smartphone oder Tablet - das Vorlesen aus einer Kinderbuch-App gibt schon ein ungewöhnliches Bild ab, oder?
Melanie Würtz: Es kommt ganz drauf an, wie das Mediennutzungsverhalten in der Familie sonst ist. Aber klar, klassischerweise kennt man das so: Die Gute-Nacht-Geschichte wird aus einem Buch vorgelesen, dabei wird unter der Decke gekuschelt. Es kann aber auch mal sein, dass für das Kind gerade ein Thema besonders spannend ist, zum Beispiel Weltraum. Dann hat man natürlich mit einer Kinderbuch-App eine gute Möglichkeit, darauf zu reagieren und diesem Interesse nachzugehen. Und gleichzeitig tut es der Gemütlichkeit keinen Abbruch, ob man mit einem Tablet oder mit einem Geschichtenbuch im Bett oder dem Sofa liegt, kuschelt und vorliest.
scout: Und die Geräte sind ja eh überall in der Familie präsent.
Melanie Würtz: Ganz genau. Die Mediennutzung im Alltag hat sich natürlich stark verändert. Tablets, Smartphones oder Smart-TVs sind omnipräsent, nicht nur zu Hause, sondern auch unterwegs, zum Bespiel im Bus. Jeder tippt auf dem Smartphone rum, da sind Kinder natürlich neugierig und möchten diese Geräte auch gerne entdecken. Mit Kinderbuch-Apps können Kinder gut an die digitalen Medien herangeführt werden - mit denen sie ja früher oder später eh umgehen müssen. Übrigens wird auf den Geräten ja auch gelesen, auch wenn es oft nicht als aktives Lesen wahrgenommen wird. Das Lesen ist ja nicht nur dem gedruckten Buch vorbehalten, und das sehen die Kinder auch.
Es tut der Gemütlichkeit keinen Abbruch, ob man mit einem Tablet oder mit einem Geschichtenbuch im Bett oder dem Sofa liegt, kuschelt und vorliest.
scout: Wie unterscheidet sich das Vorlesen mit Apps von dem aus gedruckten Büchern?
Melanie Würtz: Das kommt ein bisschen auf die App an. Generell haben Apps natürlich mehr Funktionen, zum Beispiel Sound oder einen kleinen Suchauftrag wie in einer Wimmelbuch-App. Man hat also noch mehr visuelle und auditive Anreize. Dadurch kann es beim Vorlesen mit der App auch mal bunter und lauter zugehen als beim gedruckten Buch. Ansonsten unterscheiden sich die Vorlesearten gar nicht grundlegend. Wichtig ist beim Vorlesen, egal ob aus der Print- oder App-Fassung, auf Gesprächsanlässe einzugehen. Man liest dialogisch vor. Wenn das Kind eine Nachfrage hat, geht man darauf ein und schafft vielleicht Anlässe, etwas zu besprechen, was dem Kind gerade auf der Seele liegt.
scout: Sind Kinderbuch-Apps denn auch schon was für Leseanfänger, also fürs eigene Lesen?
Melanie Würtz: Klar, es gibt auch Kinderbuch-Apps, die in die Richtung Lese-Lern-Apps gehen. Die sind natürlich besonders toll, wenn man bedenkt, dass für Leseanfänger das Lesen ja noch Arbeit ist. Die haben natürlich mit so einer App nochmal eine ganz andere Motivation, weil es vielleicht auch etwas Besonderes ist. In der Schule wird ja hauptsächlich noch mit Büchern gearbeitet. Wenn die Kinder weiter am Ball bleiben, dann wird es natürlich auch schnell besser und leichter.
scout: Worauf sollten Eltern bei der Auswahl der Apps achten?
Melanie Würtz: Es gibt unterschiedliche Arten von Kinderbuch-Apps. Wie schon erwähnt, Bilderbuch-Apps zum Vorlesen oder Lesen lernen, aber eben auch Apps mit vielen Spielen, die wirklich nur zum Spaß da sind. Die Auswahl hängt also immer von der Nutzungssituation ab: Überbrücke ich mit der App eine Wartesituation oder soll mein Kind mit der App auch was lernen? Und dann gilt: Nicht jede Kinderbuch-App ist zu empfehlen. Grundlegende Aspekte wie der Jugendschutz müssen beachtet werden. Und Eltern sollten beispielsweise einen geschützten Zugang zum App-Store haben und In-App-Käufe sperren können. Der Zugang zum Internet, wie zu Facebook oder irgendwelchen Chatforen, sollte auch ausgeschaltet werden können. Und die App sollte keine Werbung enthalten.
Es gibt unterschiedliche Arten von Kinderbuch-Apps [...] Bilderbuch-Apps zum Vorlesen oder Lesen lernen, aber eben auch Apps mit vielen Spielen, die wirklich nur zum Spaß da sind.
scout: Die Welt wird immer digitaler. Lösen Kinderbuch-Apps bald die klassischen Kinder-Printbücher ab?
Melanie Würtz: Eine Prognose dazu abzugeben ist natürlich sehr schwierig. Vor drei Jahren waren Kinderbuch-Apps ein ganz großes Thema. Jetzt flaut es aber schon so langsam wieder ab. Im Kommen sind dafür mehr interaktive Kinderbücher oder auch Printbücher, die mediales Erzählen aufgreifen.
Aber generell kann man sagen, eine App ersetzt kein klassisches Buch. Zumal Bücher ja auch Vorteile gegenüber Apps haben. Zum Beispiel Fühlbücher für die kleineren Kinder, die haptische Elemente transportieren. Da geht es ja weniger um die Geschichte, als vielmehr um große Bilder und verschiedene Oberflächen. Dieser Effekt ist bei Apps und auf dem glatten Display natürlich nur eingeschränkt möglich. Ich würde sagen, die Mischung aus klassischem Vorlesen aus Büchern und digitalem Vorlesen macht es aus.