"Die Rechte der Kinder werden zu oft übersehen"
Nadia Kutscher ist Professorin für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit an der Universität zu Köln. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die digitale Mediennutzung in Kindheit, Jugend und Familie.
Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Nadia Kutscher hat gemeinsam mit dem Deutschen Kinderhilfswerk die Studie „Kinder. Bilder. Rechte. Persönlichkeitsrechte von Kindern im Kontext der digitalen Mediennutzung in der Familie“ durchgeführt. Darin hat sie Eltern gefragt, wie sie mit der Veröffentlichung von Fotos und anderen Daten ihrer Kinder in Sozialen Medien umgehen und was die Kinder dazu sagen. Auch die Kinder selbst wurden befragt.
Das Ergebnis: In der Theorie halten die Eltern die Persönlichkeitsrechte ihrer Kinder hoch – doch dann handeln sie oft ganz anders!
Frau Kutscher, die UN-Kinderrechtskonvention feiert im November ihren 30. Geburtstag – müssten die Kinderrechte inzwischen nicht dem digitalen Zeitalter angepasst werden?
Die Kinderrechte sind bis heute so grundsätzlich und aktuell, dass sie keiner Ergänzung bedürfen. Aber vielleicht bräuchte man weitere „Ausführungsbestimmungen“ – um zu zeigen, wie sie in der digitalen Lebenswelt verstanden und ausgelegt werden sollten.
Früher hat man ein Fotoalbum im Familienkreis herumgereicht, heute teilt man die Bilder seiner Kinder in den Sozialen Medien. Wie hat sich Kind-Sein und wie Eltern-Sein durch die digitale Mediennutzung verändert?
Heute dokumentieren und teilen wir im Alltag viele Dinge aus unserem Leben, dazu laden Soziale Netzwerke geradezu ein. Dieses „Öffentlich machen“, auch der lockerere Umgang mit Privat-sphäre – das ist etwas, was diese Dienste ja nahelegen und wofür sie programmiert wurden. Dadurch verlieren wir zunehmend unsere moralischen Skrupel. Wir fragen uns gar nicht mehr, ob es überhaupt okay ist, was wir da gerade tun. Das trifft besonders zu beim „Sharenting“, also dem Teilen von Kinderfotos durch Eltern auf Facebook, Instagram oder in WhatsApp-Gruppen. Oft fehlt da die ethische Reflexion der Eltern. Fotos von Kindern zu posten – auch mal gegen deren Willen – ist inzwischen ja eine ganz herkömmliche Familienpraxis. Dabei muss man es doch so sehen: Hier werden die Persönlichkeits- und Beteiligungsrechte der Kinder verletzt! Wir haben uns als Gesellschaft an etwas gewöhnt, das nicht in Ordnung ist.
Man könnte die Fotos auch machen, ohne sie zu teilen und gut gesichert aufheben. Später können die Kinder dann entscheiden. Das tun sie möglicherweise zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrer Biografie auch unterschiedlich.
Mal ganz konkret gefragt: Ein Vierjähriger spielt versunken am Strand, die Mutter oder der Vater macht ein Foto und teilt das in einer WhatsApp Gruppe. Was ist daran problematisch?
Es stellt sich zumindest die Frage, ob man wirklich WhatsApp dafür nutzen will oder vielleicht doch besser einen anderen Dienst wie Signal oder Threema. Denn sobald ich ein Produkt aus dem Facebook-Portfolio – Facebook, Instagram oder WhatsApp – verwende, bin ich in einer Datenverwertungs-Maschinerie. Und für mich ist es ein ganz schlechtes Argument zu sagen: „Alle nutzen das!“ Man weiß längst, wie hoch der Preis sein kann, den die Kinder oder Erwachsenen dafür zahlen, dass sie solche Facebook-Produkte nutzen und damit Daten an einen kommerziellen Anbieter abgeben. Es geht ja nicht nur darum, Werbung passgenauer zu machen. WhatsApp ist inzwischen Peer-to-Peer verschlüsselt, sodass die In- halte der Kommunikation nicht mehr unbedingt für Facebook zugänglich sind. Aber unabhängig von diesen Kommunikationsinhalten entstehen Metadaten wie zum Beispiel Lokalisierungsdaten, die Facebook sammelt. Wenn man es nicht ausdrücklich deaktiviert, liest WhatsApp auch regelmäßig komplette Kontaktverzeichnisse in Handys aus und lädt sie auf US-Server. Mit diesen Metadaten wird dann vieles angestellt. Zudem produzieren Soziale Medien generell jede Menge weitere schwere Probleme, die mit Kinderfotos im Netz zusammenhängen: Ich denke an Themen wie Cyber- mobbing oder Cybergrooming, welche die seelische Unversehrtheit der Kinder gefährden.
Wie informiert sind denn die Eltern über die digitalen Medien, die sie nutzen?
Wir hatten in unserer Studie bei fast allen Eltern zum Beispiel den Fall, dass sie zwischen Facebook und WhatsApp unterscheiden. Facebook nahmen die Eltern als öffentlich wahr, da passen sie auf, was sie posten. WhatsApp gilt als privat, da meinen sie nicht so auf- passen zu müssen. Dass WhatsApp zu Facebook gehört, hat niemand thematisiert.
Welche Rolle spielt der Bildungshintergrund der Eltern?
Wir haben bewusst sowohl Familien ausgesucht, in denen die Eltern einen eher hohen formalen Bildungsstand haben, als auch Familien, in denen die Eltern ein eher niedriges Bildungsniveau aufweisen und sich in einer anderen sozioökonomischen Lage befinden. Das Interessante war, dass die Kinder in keiner der Familien richtig beteiligt wurden, wenn es um das Teilen von Fotos ging. In den weniger privilegierten Familien haben sich die Eltern allerdings eher darüber hinweggesetzt, wenn die Kinder gegen das Machen oder Teilen von Fotos protestiert haben.
Kennen denn die Eltern die Rechte ihrer Kinder nicht?
Den meisten Eltern ist schon klar, dass man auf die Daten der Kinder aufpassen sollte. Aber die Kinder werden von ihren Eltern oft nicht als „eigenständige Rechtsträger“ gesehen, es wird übersehen, dass sie eigene Rechte haben. In unserer Studie standen die Äußerungen der Eltern nicht selten im Widerspruch zu ihren Handlungen. Die Eltern haben oft gesagt, „das und das machen wir nicht“. Aber wenn man dann das Facebook-Profil gesehen hat oder wenn die Kinder berichtet haben, „das Foto von mir ist trotzdem gepostet worden“, dann hat sich gezeigt, dass es in der konkreten Praxis der Eltern doch oft anders aussieht. Es gab auch Eltern, die gesagt haben, wenn ich das Foto süß finde, teile ich es trotzdem, auch wenn mein Kind das nicht in Ordnung findet. Und relativ viele Eltern haben gesagt, je älter die Kinder werden und je mehr sie protestieren können, desto mehr passe ich auf. Sie haben das Persönlichkeitsrecht des Kindes also festgemacht an seiner Fähigkeit, Widerspruch zu leisten.
Welche Elternpflichten ergeben sich aus den digitalen Kinderrechten?
Die erste Pflicht ist, die Kinder zu beteiligen. Das heißt, sie wirklich auch in den Fotosituationen zu fragen, ob es okay ist, wenn man ein Foto macht. Und das heißt dann leider in vielen Situationen wahr- scheinlich auch, kein Foto zu machen. Die Kinder in unserer Studie hielten auch scheinbar harmlose Bilder für problematisch oder peinlich und wollten nicht, dass viele Leute sie sehen. Als Eltern sollte man sich im Klaren darüber sein, dass man nicht immer weiß, was für das Kind okay ist.Die zweite wichtige Elternpflicht ist, sich zu informieren. Welche Folgen kann das Teilen von Daten für die Kinder haben? Welche Dienste wollen wir nutzen - und welche lieber nicht?
Und wie verhalten sich die Kinder?
In unserer Studie hatten wir eine Situation, bei der die Mutter einer Siebenjährigen im Familieninterview das eigene Facebook-Profil zeigte. Da war ein Foto, wo das Mädchen als Baby von der Mutter gestillt wurde. Als das Mädchen dieses Bild sah, ist es weinend aus dem Zimmer gelaufen. Für das Mädchen war es schon ein Schock, dass die zwei anwesenden Interviewer dieses sehr intime Foto gesehen haben.Wir haben in der Studie sogar Kinder gehabt, die die Handys ihrer Eltern regelmäßig durchsucht haben, um zu schauen, mit wem die Fotos geteilt wurden. Also ein verzweifelter Versuch, wieder die Kontrolle zu gewinnen.
Gab es Ergebnisse in Ihrer Studie, die sie überrascht haben?
Zwei Dinge fanden wir sehr spannend: Kinder würden viele Fotos gerne viel mehr schützen als die Erwachsenen. Es hat sich nämlich gezeigt, dass Kinder und Erwachsene sehr unterschiedliche Fotos für problematisch oder unproblematisch halten. Die Maßstäbe von Kindern und Erwachsenen sind da sehr verschieden.Und Kinder differenzieren sehr genau zwischen verschiedenen Öffentlichkeitsgraden, das haben wir so nicht erwartet. Ein Junge hat das gut auf den Punkt gebracht, als er gesagt hat: „Das eine ist meine enge Familie, meine Freunde, das sind alle, die ich kenne. Und dann gibt es das Internet, das ist quasi die ganze Welt.“Kinder können schon im Alter von sechs Jahren sehr klar benennen, was für sie in Ordnung ist und was nicht, das hat sich in unserer Studie gezeigt. Und dass auf der anderen Seite Erwachsene die Dinge nicht unbedingt besser überblicken oder in der Lage sind, verantwortlicher zu handeln, wenn es um digitale Medien geht.
Ist die Debatte um die Kinderrechte nicht eher eine symbolische, da sie in der Praxis kaum von Kindern eingeklagt werden?
Es gibt die Kinderkommission des Bundestages sowie verschiedene kommunale Kinder-Interessenvertretungen und Ombudsstellen, an die Kinder sich wenden können, wenn ihre Rechte verletzt werden. Das müsste viel stärker verbreitet werden. Damit Kinder überhaupt davon wissen, wäre es doch ein guter erster Schritt, wenn das jedes Kind in der Schule gesagt bekäme!