Echte Freunde

„Wir müssen auch die positiven Seiten des Netzes erkennen“

"Das Netz erleichtert es jungen Menschen, Gleichgesinnte kennenzulernen, Informationen untereinander auszutauschen und Beziehungen miteinander zu pflegen", sagt der Medienforscher Dr. Jan-Hinrik Schmidt. Sie sollten aber auch gesundes Misstrauen lernen.


Herr Schmidt, in diesem scout-Heft ist es in aller Breite zu lesen: In den sozialen Medien wimmelt es von „falschen Freund*innen“, die vorgetäuschte Nähe für sich ausnutzen. Da drängt sich die Frage auf: Gibt es eigentlich auch „wahre Freund*innen“ im Netz?

Absolut! Jeden Tag pflegen Menschen ihre bestehenden Beziehungen mithilfe der sogenannten sozialen Medien. Und jeden Tag machen Menschen hier Bekanntschaften von denen sie wirklich profitieren. Dabei haben sie ja recht mit der Ausgangsbeobachtung: Wenn wir heute über diese Medien sprechen, dann ja zumeist über die mit ihnen verbundenen Gefahren. Das ist verständlich. Zu einem echten, umfassenden Verständnis der Bedeutung dieser Netzwerke für uns als Gesellschaft gehört es aber auch, ihre positiven Seiten zu erkennen.

Welche positiven Seiten sind das?

Generell kann man sagen, dass das Internet den „sozialen Möglichkeitsraum“ erweitert: Es erleichtert es jungen Menschen, einander kennenzulernen, Informationen untereinander auszutauschen und Beziehungen miteinander zu pflegen. Also Kontakt zu „wildfremden“ Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen aufzunehmen und auszubauen. Was in der analogen Welt viel aufwendiger wäre.

Wo sehen Sie die zentralen Vorteile der digitalen Kommunikation?

Man kann grundsätzlich zwischen drei Ebenen unterscheiden, auf denen digitale Kommunikation stattfindet. Da ist die erste Ebene des privat-persönlichen Umfelds: Hier geht es um die Pflege bestehender, realer Beziehungen. Angenommen, eine Großmutter lebt in einer anderen Stadt und sieht ihre Enkelkinder nur selten. Mithilfe eines Messengers kann sie mit ihnen auf vielfältige Weise kommunizieren. Das kann eine Sprachnachricht mit einem Schlaflied von der Oma sein oder ein selbst gemaltes Bild des Kindes, das als Foto verschickt wird. Ein ähnliches Beispiel ist der Familienchat oder die Chatgruppe einer Clique: Auch hier werden reale Beziehungen gepflegt. Die zweite Ebene sind Menschen, die bestimmte Interessen oder Bedürfnisse teilen. Angenommen, jemand interessiert sich für Live-Rollenspiele: Über ein entsprechendes Forum findet er vielleicht heraus, dass zwei Dörfer weiter jemand lebt, der dasselbe Hobby hat. Schon kann man sich austauschen, digital anfreunden und irgendwann auch im echten Leben treffen.

Auch eine zivilgesellschaftliche Vernetzung, etwa unter Menschen, die sich für ihr Viertel engagieren möchten, beginnt nicht selten im digitalen Raum. Oft setzt sie sich dann in der realen Welt fort: Auf den Gruppenchat folgt das Treffen im Stadtteilhaus. Auch Minderheiten profitieren von diesen Formen der Vernetzung. Das können Geflüchtete sein, die online Partner*innen für das SprachTandem finden. Oder sexuelle Minderheiten, die vielerorts noch immer Ausgrenzung erfahren. Die digitale Kommunikation ermöglicht soziale Kontakte, die ohne sie kaum oder gar nicht zustande gekommen wären. Die dritte Form der Vernetzung ist wiederum rein digital. Sie kennt keine räumlichen Grenzen, das heißt, hier kommen Menschen aus aller Welt miteinander in Kontakt. Das können Anhänger einer Popband sein, die ihren Idolen bei Instagram folgen. Oder Mitglieder einer „Gilde“ bei Online-Spielen wie Minecraft, Fortnite oder World of Warcraft.

Vernetzung mit anderen ist für LGBTQ-Jugendliche besonders wichtig.
Queere Jugendliche nutzen das Internet häufiger als Gleichaltrige und dabei überdurchschnittlich häufig Dienste, die eigenes Engagement erfordern – wie Foren oder Messageboards.

Quelle: www.dji.de

Welche Rolle spielen diese Formen der Vernetzung speziell für junge Menschen in der Phase der Persönlichkeitsentwicklung und -findung?

Kommunikation ist mehr als der Austausch von Informationen. Es geht dabei immer auch um ganz essenzielle Fragen: Wie wirke ich auf andere? Wie reagieren andere auf mich? Wie reagiere ich, wenn ich gelobt oder kritisiert werde?

Wo ist eigentlich mein Platz innerhalb einer Gruppe? Oder kurz: Wer bin ich? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, gleichen wir unser Selbstbild laufend mit Fremdbildern, die uns gespiegelt werden, ab. Das heißt, wir formen unsere Persönlichkeit im Wechselspiel zwischen inneren Vorgängen und der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Vor allem für junge Menschen sind diese Prozesse enorm wichtig. Auch in den Medien machen sie heutzutage solche Erfahrungen als soziale Wesen. Solche Netzwerke und Foren bieten den jungen Menschen eine Bühne, auf der sie sich ausprobieren können. Hier können sie zum

Beispiel ganz verschiedene Identitäten für sich austesten. Und sie lernen dann ganz nebenbei, wie Kommunikation unter den Bedingungen des Internets funktioniert. Dazu gehört natürlich auch ein „gesundes Misstrauen“ im Umgang mit den neuen digitalen Kommunikationspartnern.