„Wir beerdigen Avatare“
„Wenn ich die Faszination der Games nicht verstehe, komme ich auch nicht an die Kinder und Jugendlichen ran“, sagt Anke Korfhage von der Hamburger Jugend- und Suchthilfe Kö *schanze, die dort auch mit exzessiven Gamern arbeitet.
scout: Ist wirklich jeder, der mehrere Stunden pro Tag spielt, von seinen Computerspielen abhängig, also im Sinne einer Sucht?
Wenn jemand sehr viel spielt, aber noch nicht sehr lange, und nebenbei alle anderen Formen des sozialen Lebens noch pflegt – wie Sport treiben und Freunde treffen –, dann klingeln bei mir nicht die Alarmglocken. Für den Moment müssen sich die Eltern keine Sorgen machen – das aber im Auge behalten.
scout: Warum kommen Jugendliche zur Beratung?
Wer freiwillig kommt, leidet. Manche sagen: Mich macht nur noch das Spiel aus! Wenn ich mich total auf die Spiele fokussiere, gehe ich keinen anderen Interessen mehr nach – ich habe schlicht keine Zeit mehr, auch nicht für Hygiene oder Schlaf. Wir treffen hier Leute, die bis zu 20 Stunden pro Tag spielen! Und manche Kids gehen mit zwölf Jahren nicht mehr zur Schule, weil sie es vor lauter Spielen einfach nicht mehr schaffen.
scout: Es gibt Computerspielsucht also wirklich?
Wir haben seit Neuestem eine Diagnose-Richtlinie der Weltgesundheitsorganisation zur „Gaming Disorder“, um eine Sucht von einer starken, aber unproblematischen Nutzung abzugrenzen.
scout: Wer kommt zu Ihnen?
Es kommen Kinder ab neun Jahren und junge Erwachsene bis 21 Jahren, um unser anonymes und kostenloses Beratungsangebot zu Suchtgefährdungen oder unsere Erziehungsberatung zu nutzen. Wir sprechen aber auch oft mit Angehörigen: Eltern, Großeltern oder Freunde, die sich Sorgen machen. Manchmal kommen Jugendliche auch selbst vorbei, weil sie sich besorgt fragen: Bin ich krank? Daneben werden Jugendliche auch vom Jugendamt, von der Schule oder einer Erziehungsberatung geschickt. Die Eltern sehen das Problem nicht immer selbst, verharmlosen es oft. Mit der neuen Diagnose ist uns in solchen Fällen sehr geholfen. Dann lasse ich die Jugendlichen einen Test machen, so wird die Störung „offiziell“. Es ist der „CIUS“-Test, der leichte von schwereren Störungen zu unterscheiden hilft.
scout: Sehen Sie einen Anstieg der Fälle von „Gaming Disorder“?
Die Computersucht nimmt in unserer Statistik seit Jahren zu. Sie kommt – nach Cannabis und Alkohol – auf Platz drei, vor Partydrogen wie Ecstasy oder Kokain. In der täglichen Beratung macht es aber keinen Unterschied, ob ich jemanden vor mir sitzen habe, der computerspielsüchtig oder von Cannabis abhängig ist – sie leiden fast alle unter sozialem Rückzug. Dass die Zahlen bei uns steigen, liegt vielleicht daran, dass wir einen Schwerpunkt für Computersucht aufgebaut haben und sich das herumspricht. Es sind konkret etwa 80 bis 90 Fälle pro Jahr. Die meisten widmen sich einer Form von Computer-Rollenspiel. Nur etwa jede siebte Beratung ist mit einem Mädchen.
scout: Was sind häufige Ursachen?
Ich treffe oft sehr unsichere junge Menschen, die im Spielen eine Form von Sicherheit finden. Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten oder solche, die schon mit anderen sozialen Störungen aufgefallen sind. Andersherum entstehen aus der Abhängigkeit neue Störungen und Konflikte. Sicherlich gibt es häufiger unterliegende Krankheitsbilder wie Depressionen, die wir aber nicht behandeln. Uns geht es vor allem darum, Wege und Strategien zu finden, den Spielkonsum in den Griff zu bekommen.
scout: Und wie bekommen ihre Klienten das dann hin?
Wir beerdigen die Avatare, um uns symbolisch vom Spiel abzugrenzen. Besonders wichtig ist es zu lernen, regulierter zu spielen. Ganz aufhören, das ist bei digitalen Medien im Gegensatz zu echten Drogen nicht realistisch, weil sie uns ständig umgeben.
scout: Wie sieht so eine Beratung bei Ihnen aus?
Wir treffen uns in der Regel wöchentlich, wobei die Dauer von ein Mal bis 30 Mal reichen kann, je nach „Schwere“ des Falls. Ein roter Faden ist, die Motivation zur Veränderung aufrecht zu erhalten. Ich frage: „Was wäre in drei Jahren, wenn du so weiter- machen würdest?“ Wir suchen gemeinsam nach sinnvollen alternativen Aktivitäten, nach Personen, die unterstützend wirken können. Der Wandel ist schwierig: Wir feiern Fortschrifft, akzeptieren aber auch Rückschläge. Die gehören dazu.
scout: Was machen die Spiele, dass sie uns so stark binden?
Die Faszination ist in der Arbeit mit den Jugendlichen ein großes Thema. Ich muss anerkennen, dass Spiele sie total begeistern. Dass es das ist, was sie innig lieben. Nur so kann ich Kontakt aufbauen. Viele Eltern wissen gar nicht, welches Ansehen sich ihre Kinder in der Spielwelt erworben haben: Da gehört der Sohn heimlich zu den Top 100 „World-of-Warcraft“-Kämpfern des Landes, und sie haben keinen Schimmer davon. Natürlich kann er damit nicht einfach aufhören, nur weil das Mittagessen kalt wird!
scout: Helfen Gespräche noch bei einer richtig starken Spielsucht?
Wer seit drei Monaten massiv durchspielt, kann mit einer ambulanten Therapie dagegen angehen. Wer aber seit Jahren acht Stunden und mehr am Tag spielt, muss in eine stationäre Therapie. Das geht nicht mehr an dem Ort, an dem man lebt.
scout: Was können speziell die Eltern tun?
Das Handy aus der Hand zu reißen ist ein No-Go! Stattdessen muss ich Klarheit zeigen, Präsenz. Und: Ich muss Vorbild sein. Also nicht sagen: „Leg dein Handy weg!“ Und dann gleich hinterher selbst zum Handy greifen. Oft höre ich von Eltern: „Wir haben doch schon so vieles ausprobiert, und nichts hat geklappt!“ In diesen Fällen ist den Kindern schlichtweg nicht mehr klar, welche Haltung die Eltern vertreten. Wichtig ist nämlich, dass diese Haltung konsequent vertreten wird – dann darf sie auch entspannt sein.
scout: Wie sind die „Heilungschancen“?
Die sind gut, wo Leidensdruck herrscht und wo man sich ändern will. Ein wichtiger Grundsatz ist: Nimm niemandem etwas weg, wenn du ihm nichts anderes anbieten kannst! Wer aufhört zu spielen, muss alte Hobbys ausgraben oder neue, andere Interessen finden. Gibt es alte Träume, die weitergesponnen werden können? Wo ist ein „gesunder Rausch“ zu finden? Das versuchen wir herauszuarbeiten. Gemeinsam übrigens mit den Eltern. Manche wollen die Kinder hier nur „abgeben“, aber so funktioniert das nicht: Eltern sind Teil der Beratung, des Gesprächs, der Suche nach neuen spannenden Themen im Leben ihrer Kinder.
scout- TIPP
Stellen Sie schon früh klare Regeln über Medienzeiten auf! Ein gemeinsamer Vertrag hilft: www.mediennutzungsvertrag.de [LINK]
Beratungsstellen in Hamburg und Schleswig-Holstein:
* SUCHT.HAMBURG: Landesweite Fachstelle für Suchtfragen:
www.sucht-hamburg.de [LINK]
* stadt.mission.mensch: Suchtberatungs- und Behandlungsstelle Kiel: www.stadtmission-mensch.de [LINK]
Dieser Artikel stammt aus dem scout-Heft 1/2019: "Die wollen doch nur spielen!"