Medienethik

Werte sind auch online wichtig

Wir alle können etwas dafür tun, dass wichtige Werte des menschlichen Umgangs miteinander auch im Netz gelten. Wie genau, das zeigt uns ein Tag im Leben der 15-jährigen Tini aus Hamburg-Rahlstedt.

Ein Artikel von Andreas Beerlage


Kapitel 1: Du sollst online nicht deine oder anderer Leute Privatsphäre schädigen.

Kurz vor sieben, der Wecker klingelt. Tini* steht auf, zieht die Gardine zur Seite: Toll, herrlicher Sonnenschein! Sie springt schnell ins Bad um zu duschen und kommt zurück ins Zimmer. Tini zieht die Gardinen zu, um in Pulli und Hose zu schlüpfen, wegen der Nachbarn gegenüber. Bevor sie heute nach dem Frühstück aus dem Haus rennt, um den Bus gerade so eben zu erwischen, macht sie noch schnell ein Selfie vor dem großen Spiegel im Flur: Sie posiert so, dass ihre Beine sehr lang aussehen, und zieht das T-Shirt hoch bis über den Bauchnabel, damit alle bemerken, wie toll das Online-Workout in den vergangenen sechs Wochen angeschlagen hat. Dann ist sie weg. Im Bus zieht sie noch einen Beautyfilter über das Bild, und schon ist es auf Instagram zu sehen. Schnell sammelt der Schnappschuss Likes und Kommentare: „WOW, du bist sooo SÜÜSS!!!“.

* Wir haben hier ein paar typische Ereignisse zusammengetragen, die wir selbst beobachtet haben: in unseren eigenen Familien, bei Freunden, im Bekanntenkreis. Tini ist also ein Produkt unserer Phantasie – allerdings ein sehr realistisches.

Komisch, oder: Gardine zu beim Hose Überstreifen, aber bauchnabelfrei auf Instagram? Werte, die uns im „wahren Leben“ als sehr wichtig erscheinen, sind in der digitalen Welt plötzlich sehr viel weniger wert. Die Privatsphäre ist da ein besonders offensichtliches Beispiel. Jugendliche probieren sich im Netz aus, pflegen ihre sozialen Beziehungen über die Sozialen Medien. Allerdings sind das Netz, Facebook, WhatsApp-Gruppen oder Instagram-Kanäle keine geschützten Räume, in denen man die Gardine einfach so zuziehen könnte.

Klar, es gibt Privatsphäre-Einstellungen, das hat sich herumgessprochen. Aber Bilder können kopiert und weitergeschickt werden. Und wer sein Profil auf Facebook auch für „Freunde von Freunden“ freischaltet, dem schaut ja schon die halbe Welt zu. „Ich habe doch nichts zu verbergen“, ist die übliche Ausrede, wenn man es mit dem Privaten nicht allzu ernst nimmt. Doch wer nicht möchte, dass Wildfremde einfach mal zur Tür hereinkommen, um sich alle Zimmer anzuschauen – der sollte auch im Netz nicht lax mit dem Privaten umgehen. Das gilt auch für die Privatheit der anderen. Dieser Umkehrschluss funktioniert übrigens bei allen wichtigen Werten. So ist wohl das Sprichwort entstanden: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu.“

Kapitel 2: Du sollst online dich oder andere nicht verletzen.

Auf WhatsApp geht es heute noch vor Unterrichtsbeginn hoch her: Einige von Tinis Freunden machen sich über den neuen Mitschüler Tom lustig, der im laufenden Halbjahr noch in die Klasse aufgenommen wurde: „Der ist soo ein Lauch!!“. Die Sprüche werden immer derber. Als Tini an der Schule ankommt, sieht sie Tom in einer Ecke des Foyers, mit feuerroten Augen. Einer der Mitschüler hat die schlimmsten Beleidigungen aus dem Chat in die Klassengruppe kopiert. Tom kommt erst zur dritten Stunden in den Unterricht. Er spricht den ganzen Tag kein Wort.

Alles nur digital, und deshab nicht real? „Online-Gewalt ist reale Gewalt“, sagt die Stuttgarter Medienethik-Professorin Petra Grimm. Nur weil kein Blut fließt, ist das Netz noch lange kein friedlicher Raum. Dafür stehen Stichworte wie Cybermobbing, Shitstorm, Bashing, Trolling. Andere verächtlich machen, das geht im Netz mit einem Klick oder Wisch. Es ist so einfach wie nie geworden, und das im schlimmsten Fall vor einem unendlich großen Publikum. An Stelle physischer Verletzungen treten psychische Schäden.

Wer so handelt, hat gute Chancen, ungestraft und ohne weitere Konsequenzen davonzukommen. Damit keiner so wie Tom behandelt wird, hilft ein Trick der Psychologen: Der Perspektivwechsel. Was wäre, wenn ich Tom wäre? Wer nicht völlig abgestumft ist, der merkt schnell, dass so ein Verhalten wie das seiner mobbenden Mitschüler überhaupt nicht okay ist. Und auch nicht okay ist, einfach unbeteiligt zuzusehen. Es ist das Phänomen der „Bystander“, die falsches Verhalten beobachten, aber nichts dagegen tun.

Kapitel 3: Du sollst online nicht betrügen oder andere Menschen materiell schädigen.

Tini hat viel zu tun. Die Schule geht jeden Tag bis nachmittags. Sport, Freunde, einmal Nachhilfe – da bleibt nicht viel Zeit für einen Job. Für größere Sprünge reicht das Taschengeld nicht. Deshalb treibt sie häufig Handel per Ebay-Kleinanzeigen. Oma bringt von ihren Urlaubsreisen gefakte Markenartikel mit, T-Shirts und Sonnenbrillen zum Beispiel. Die verkauft Tini. Bei den Beschreibungen ist sie sehr kreativ und textet: „Auf der Brille steht Gucci“. „Hab’ nie behauptet, die ist von Gucci“, sagt sie zu ihrer Freundin Lara, und die nickt: „Die sind doch selbst blöd, wenn sie darauf reinfallen, weiß doch jeder.“

Andere Betuppen, das geht im Netz so schnell, bei Ebay, per Kleinanzeige, im Kleiderkreisel: Die Beschreibung ist geschönt, das Foto dazu schnell etwas retuschiert. Das Argument für’s Betuppen ist immer dasselbe: „Das macht doch jeder!“ Aber das stimmt nicht, dann würde ja keiner mehr online Gebrauchtes mehr kaufen. Die „Smarten“ betrügen auf Kosten der vielen Ehrlichen. Und der Schaden ist dabei ganz reell, wenn zuviel Geld für etwas ausgegeben wurde. Nur der Bequemlichkeit derjenigen, die sich haben betuppen lassen und keine Konsequenzen folgen lassen, ist es zu verdanken, dass die kleinen Netz-Betrüger sehr oft mit ihrem Handeln davon kommen.

Kapitel 4: Du sollst auch online nicht lügen!

Oh je, abends, nach dem Essen, beim Blick auf den Stundenplan, fällt Tini auf: Sie hat völlig vergessen, dass sie morgen die Geschichts-Präsentation halten muss. Über Martin Luther. Der ist seit fast 500 Jahren tot! Tini hat nur eine Chance: Copy & Paste! Sie findet schnell ein paar Quellen, die nicht so bekannt sind wie Wikipedia, und baut sich einen eigenen Text daraus zusammen. Wird keiner merken. Um das rauszufinden, müsste der Lehrer ja selbst tätig werden. Der doch nicht! Tini findet auf einer privaten Homepage noch ein Foto von der Kirche in Wittenberg, mit der Tür, auf die Luther – angeblich – seine Thesen genagelt hat. Tini denkt: „Ich sage einfach, das ist von mir, als wir im Sommer in Leipzig waren, da haben wir einen Ausflug hingemacht.“ Persönliches Engagement kommt immer gut an, vielleicht wird die Note ja besser.

Getrickst und gelogen wird viel im Netz. Man macht sich älter, um bei Sozialen Netzwerken zugelassen zu werden. Man verbreitet Gerüchte über Facebook, oder beteiligt sich an der Verbreitung, einfach nur zum Spaß. Man benimmt sich schlecht, aber natürlich nicht unter Klarnamen. Man bewertet etwas – eine Party, ein Konzert, ein Café, ohne überhaupt da gewesen zu sein. Man schönt beim Profil, und natürlich auch beim Profilfoto – wozu gibt es schließlich Bildbearbeitungssoftware? Der Übergang von Wahrheit über ein bisschen Schummeln bis hin zur richtigen Lüge ist oft schleichend. Lügen ist online einfach: Man lügt ja schließlich keinem offen ins Gesicht. Aber Lüge bleibt Lüge, auch im Netz. Und wo Lügen sind, gibt es auch Belogene. Und wer möchte schon gerne belogen werden?

Kapitel 5: Die Moral von der Geschicht’.

Alle diese kleinen Geschichten zeigen: Sich über Werte hinwegzusetzen, auf die man sich im „wahren Leben“ eigentlich schon längst verständigt hat, das ist im Netz sehr leicht. Manchmal will man das gar nicht, es rutscht eben so durch. Auch Erwachsenen, die es genau wie Tini bei Ebay nicht so genau nehmen und auf Facebook fiese Kommentare schreiben.

Eltern kriegen es auch oft mit, wenn ihre Kinder online lügen oder anderen Mist bauen. Sie sollten sie dabei nicht noch unterstützen, sondern sofort intervenieren und das passende „Gebot“ auch im Digitalen verteidigen.

Deshalb: Werte sind auch online wichtig!