Pornografie

Pornos geguckt, Liebe verlernt?

Internet-Pornografie gehört zum Lebensalltag vieler Jugendlicher. Wie sich das auf deren Psyche auswirkt, ist bei Forschern umstritten.


Das Gesicht eines Jungen wird in einem dunklen Raum hell angestrahlt
Fotocredit: Getty Images Creative

Kam es vor 20 Jahren noch eher einem sozialen Selbstmord gleich, offen in der minderjährigen Peergroup den Konsum von Schmuddelfilmen zu gestehen, so ist heute der Umgang mit expliziten Sexclips völlig selbstverständlich geworden. Pornos sind in der Regel schwellenlos erreichbar, umsonst und anonym zu konsumieren.

Millionen Filme aller Schattierungen nur einen Klick entfernt – wer könnte da als Teenager schon widerstehen?

So ist der Bewegtbild-Sex, acht Jahre nach der Freischaltung der Plattform Youporn im August 2006, voll in der Lebenswelt der Jugendlichen ab 13 Jahren angekommen. Den ersten Kuss haben sie noch nicht erlebt, Pornografie ist ihnen bereits vertraut.

Die Zahlen dazu schwanken, aber sie sind auch in ihrer Varianz aussagekräftig genug: Erfahrungen mit Pornos im Internet haben demnach zwischen 60 und 80 Prozent der Jugendlichen von 13 bis 17 Jahren. Wenn man einrechnet, dass Mädchen überwiegend gar nicht darauf stehen, wären also nahezu alle männlichen Jugendlichen mit an Bord.

In den Jahren nach dem Youporn-Start wurde dann in vielen Artikeln und Büchern kräftig Alarm geschlagen: Der Pornokonsum als Massenphänomen führe zu sexueller Verrohung, sozialer Verwahrlosung. Ein Buch schrieb gar „Deutschlands sexuelle Tragödie“ herbei: „Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist.“ Besorgte Wissenschaftler und Pädagogen diskutierten seither, ob die Mainstream-Kultivierung von Pornografie die gesunde psychologische Entwicklung von Jugendlichen nachhaltig schädige: Wenn Minderjährige harte, rohe Pornos mit allen Formen von Perversionen konsumierten, so könne das nicht ohne Folgen bleiben.

Johannes Gernert, Autor des Buchs „Generation Porno“*, fasste die Bedenken so zusammen: „Man befürchtet, dass junge Leute, die sich mit Pornografie aufklären, Sexualität nicht mehr mit Liebe verbinden.“

Und manchmal ist in der Diskussion nicht zu trennen, wo sich die tiefe Sorge um die Jugend mit restaurativen Bestrebungen konservativer Stimmen mischt, die das Rad der „sexuellen Befreiung“ möglichst wieder auf den Stand der 50er-Jahre zurückdrehen möchten.

Doch der wissenschaftliche Nachweis, dass Pornos tatsächlich einen negativen Einfluss auf das jugendliche Sexualverhalten und die Entwicklung ganz allgemein haben, ist in der Zwischenzeit nicht erbracht worden.

Die Medienwissenschaftlerin Professor Petra Grimm hat für die Bundesregierung zum Thema geforscht. Sie sagt: „Jugendliche arbeiten im Allgemeinen (…) die Pornografie sehr viel kompetenter in ihre Biografie ein, als es besorgte PädagogInnen, HirnforscherInnen und PolitikerInnen annehmen.“

Heranwachsende suchen demnach vor allem „normales“ pornografisches Material, das „masturbationstauglich“ ist und sich klar abgrenze von harter Pornografie, weiß der Sexualforscher Professor Konrad Weller. Das unterstreicht auch die Studie mit dem sperrigen Titel „Nutzermotive und Nutzertypologien jugendlicher Pornografie-Nutzung“, die Alexander Rihl in Berlin mit 1.077 Heranwachsenden online durchführte. Demnach handele es sich bei deren „Pornografierezeption“ primär um „leichte Kategorien“, die nah an der Lebenswelt der Jugendlichen orientiert seien.

Die meisten Forscher sagen: Jugendliche differenzieren bei pornografischen Darstellungen sehr genau, was sie sehen möchten und was nicht. Harte Pornografie (Gewalt-, Kinder- sowie Tierpornografie) wird geächtet. Aus aktuellen Studien geht ziemlich eindeutig hervor, dass Jungen sehr wählerisch sind bei der Auswahl ihrer Sorte Pornografie.

Der SPIEGEL bilanzierte das im April 2014 so: „Zwar wartet im Netz das Panoptikum der Perversionen und verwunderlichsten Fetische auf sie. Die Heranwachsenden registrieren das auch. Aber es gefällt ihnen nicht.“ Alles, was über das gesellschaftlich weitgehend anerkannte Programm hinausgeht, werde als „null erregend, abartig, abstoßend“ und „zum Kotzen“ empfunden.

Es sind vor allem die Jungen, die Pornos nutzen. Um zu schocken. Um anzugeben. Um sich sexuell zu erregen. Um sich zu informieren. Die Mädchen haben weniger Bock auf Porno. Jungs, die Pornos gucken, haben laut Petra Grimm den Nimbus als „coole Checker“. Mädchen, die mitmachen, gelten hingegen als „Schlampen“. Ironischerweise führt die sexuelle Befreiung der Teenager zu einem Sittenbild, das seine Ursprünge in den 50er-Jahren zu haben scheint. So dominiert bei Jugendlichen „ein biologistisches, traditionell-konservatives Geschlechtermodell“, schreibt Petra Grimm. Allerdings sei das in den echten Liebesbeziehungen völlig anders: Mädchen forderten hier nämlich vehement Gleichberechtigung ein.

Wozu also die ganze Aufregung? „Die zyklisch auftretenden Diskussionen über jugendsexuelle Katastrophen spiegeln eher Ängste der Erwachsenen als reale Verhältnisse bei den Jugendlichen wider“, resümiert Silja Matthiesen vom Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. An diesem Punkt könnten sich Eltern und Pädagogen also beruhigt zurücklehnen. Die Wissenschaft hat festgestellt: Ist ja gar nicht so schlimm! Im Gegenteil: Die gehen richtig gut mit der Pornografie um!

In der ZEIT wurde diese milde Sicht auf die Porno-Dinge zuletzt in einem großen Beitrag auf den Hamburg-Seiten als „verharmlosend“ kritisiert, als „angemaßte Deutungshoheit“ einer Gruppe von Wissenschaftlern, deren Beiträge zur Forschung ständig im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung stünden.

Tatsächlich gehen bei der Darstellung, die Jugendlichen kämen ja super mit Pornos klar, die vielen Grautöne unter. Und es werden Stimmen überhört, die nicht dramatisieren, aber auch nicht beschwichtigen wollen.

Pornografie übt bereits durch ihre schiere Masse eine Definitionsmacht über Sexualität aus: Es gehört schon einiges dazu, seine individuellen Erfahrungen mit Sexualität höher zu bewerten als die 500.000 pornografischen Videoclips und Filme, die mittlerweile auf einer einzigen Internetplattform zur Verfügung gestellt werden.

Professor Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung

So sagt Professor Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung: „Menschen, die als Erwachsene mit dem Konsum von Pornografie beginnen, haben bereits eine eigene sexuelle Geschichte, zu der mehrheitlich die partnerschaftliche Sexualität gehört. Solche Erfahrungen können sie mit pornografischen Bildern vergleichen. Junge Menschen haben diese Möglichkeit aber noch nicht.“

Der Berliner Sexualwissenschaftler Klaus Michael Beier fügt hinzu: „Es wäre doch naiv, zu glauben, dass solche Bilder und Filme nicht die Vorstellung von Sexualität junger Menschen beeinflussen können.“

Ursula Ender vom Verein Zartbitter e. V. in Köln hat in der Praxis durchaus Auswirkungen der Pornos auf Jugendliche bemerkt: „Viele selbstbewusste Mädchen spüren schon auf den ersten Blick die Mädchen- und Frauenfeindlichkeit pornografischer Darstellungen und klicken das Material spontan weg. Bei anderen Mädchen hingegen löst die Konfrontation mit pornografischem Bildmaterial massive Selbstzweifel aus. Sie stellen sich die Frage, was an ihnen nicht stimmt, dass sie sich bestimmte Sexualpraktiken für sich selbst nicht vorstellen können.“ Bei dem Verein hätten sich wiederholt jugendliche Mädchen gemeldet, die aufgrund der für sie schockierenden Konfrontation mit harter Pornografie im Netz massive Folgeproblematiken entwickelt haben.

Der Sexualpädagoge Lukas Geiser hat beobachtet, wie sehr die Vorstellungen der jungen männlichen Heranwachsenden vom „ersten Mal“ – „Ich wünsche mir, dass es romantisch ist, dass beide das wollen, dass das an einem schönen Ort ist, Kerzen“ – sich von dem unterscheiden, was sie aus der Pornografie kennen. Nicht alle Jugendlichen können diesen Graben problemlos überwinden. Michael Hummert, Diplom- und Sexualpädagoge sowie Dozent am Institut für Sexualpädagogik in Dortmund, sagt: „Das von Pornografie gezeichnete Bild irritiert Jugendliche, weil Sexualität so viel, so laut und so tabulos dargestellt wird. Damit steht es im drastischen Widerspruch zu dem häuslich und vielfach auch in den Medien vermittelten Bild von einer Sexualität, die so lieb, so leise und so vorsichtig ist.“

Eine Dimension der Diskussion um Jugendliche und Internet-Pornografie kommt bislang völlig zu kurz: die rechtliche. „Vielen ist es vielleicht nicht klar, aber wer Pornografie im Netz frei zugänglich verbreitet, begeht eine Straftat“, sagt Thomas Fuchs, Direktor der Medienanstalt Hamburg / Schleswig-Holstein (MA HSH)**. Die Landesmedienanstalten überwachen den Jugendmedienschutz in ihren Bundesländern. Denn Pornografie darf den unter 18-Jährigen in Deutschland nicht zugänglich gemacht werden. Die Gesetzeslage dafür ist eigentlich eindeutig: In den Telemedien (also dem Internet) darf auch „einfache“ Pornografie nur innerhalb geschlossener Benutzergruppen zugänglich gemacht werden.

Ist das nicht der Fall, liegt ein Verstoß gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vor. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass der Staatsvertrag nur für Deutschland gilt. In anderen Ländern herrschen andere Regeln. Was in Deutschland verboten ist, kann anderswo erlaubt sein, die Kontrollmöglichkeiten enden an den deutschen Grenzen.

Fast alle Server der großen Porno-Sites liegen deshalb im Ausland. So gelingt es Minderjährigen bei vielen Porno-Plattformen, sich mit einem Klick als „über 18“ zu verifizieren. Andere Pornoseiten sind schon auf den ersten Klick „scharf geschaltet“.

Die MA HSH fahndet im Netz nach deutschen Porno-Angeboten, die in ihrem Zuständigkeitsbereich erstellt werden und bei denen der Zugang nicht erschwert ist, wie es das Gesetz verlangt. Die Medienanstalt fordert dann den Anbieter auf, den Betrieb der Seite einzustellen. Sie meldet die Fälle auch an die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und erstattet gleichzeitig Anzeige.

Ein Gesetz, ein Verstoß – da sollte es dann auch Konsequenzen geben. Gibt es aber nicht. Stattdessen Vollzugsprobleme. Denn in den vergangenen drei Jahren wurden in Schleswig-Holstein alle Verfahren dieser Art von der Staatsanwaltschaft eingestellt, wegen „geringer Bedeutung der Sache“. „Zuletzt hat ein Staatsanwalt sinngemäß so argumentiert: ‚Pornos sind doch bereits unter Grundschülern unbegrenzt verfügbar’“, sagt Thomas Fuchs. Für die Medienanstalt ist das nicht tragbar: „Man gibt sich bei diesem Thema supertolerant, wahrscheinlich, um nicht in die Spießer-Ecke gestellt zu werden.“

„Das tut doch jeder“ sei aber kein Argument, findet Thomas Fuchs: „Wenn es bei Minderjährigen Trend wird, Alcopops zu trinken, sagen wir auch nicht: ‚Ach, die beschaffen sich Alkohol trotz Verbot sowieso – lassen wir sie doch einfach saufen’!“ Bei der Pornografie aber, deren Langzeitwirkung auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen noch längst nicht geklärt ist, hat sich die Gesellschaft einem seltsam gelähmten Liberalismus ergeben. Und den möchte Thomas Fuchs nicht länger akzeptieren: „Wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Nehmen wir das einfach so hin? Wollen wir wirklich, dass Fünftklässler auf dem Pausenhof Pornos schauen?“

Denn grundsätzlich steht bei der Pornografie-Problematik auch noch die Frage nach der Unverletzlichkeit der Menschenwürde offen: Wollen wir, als Gesellschaft, als Eltern und Lehrer, dass Jugendlichen ein Bild von Geschlechterbeziehungen vermittelt wird, das vielfach auf Frauenfeindlichkeit, Männermacht, Promiskuität und der Verknüpfung von Aggression und Sexualität beruht? Und, mal etwas flapsig formuliert: Wollen wir die Sexualaufklärung der Kinder in die Hände von kalifornischen Porno-Produzenten geben?

Sicher nicht.


* Johannes Gernert: „Generation Porno“, Fackelträger-Verlag

** Die MA HSH ist Herausgeber von scout und www.scout-magazin.de

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