ICH-Perspektive

„Mit jedem Kilo schwand ein Teil ihrer Persönlichkeit“

Y. ist 16 Jahre und lebt im Norden von Hamburg. Sie erzählt von einer Freundin, die unter Magersucht leidet.


Hinterkopf eines Mädchens
Foto: plainpicture

Ich habe eine gute Freundin, eine sehr gute Freundin, wir kennen uns seit dem Kindergarten. Heute sind wir in der neunten Klasse.

Angefangen hat es, glaube ich, in der achten, so vor einem Jahr. Aber das kann ich nicht so genau sagen, weil ich es bestimmt viel zu spät gemerkt habe. Vielleicht fing es mit der Wasserdiät an oder früher oder erst, als sie immerzu fror und zitterte.

Moment, worum geht’s eigentlich? Mit 13, 14 Jahren macht man sich immer mehr Gedanken übers Aussehen, vergleicht sich mit anderen und man will es ja nicht immer zugeben, aber jeder Mensch hat mal etwas an sich zu meckern und ist mal sehr unzufrieden mit sich selbst. Vor allem, wenn man 13, 14 Jahre alt ist.

Meine Freundin machte sich immer mehr Gedanken darüber, wer sie sei, wie sie aussehe, wie sie aussehen und vor allem, wie sie sich entwickeln wollte. Aber wir merkten nicht früh genug, dass diese Gedanken bei ihr zu einer Krankheit führten.

Sie wurde immer stiller, ihre sonst immer starke Meinung war nicht mehr zu hören, ihre gute oder schlechte Laune schwand. Sie wurde dürr, zitterte immerzu und ihr Gesicht war ausdruckslos. Früher hatte sie wirklich eine normale Figur, doch mit jedem Kilo schwand auch ein Teil ihrer Persönlichkeit.

Ich war verzweifelt. Ich konnte nichts, absolut nichts dagegen tun. Unsere Clique auch nicht. Ich wollte sie am liebsten durchrütteln und anschreien, was dieser Blödsinn soll, sie müsse gefälligst damit aufhören und wieder sie selbst sein. Ich versuchte mit ihr zu reden, ihr Pizza geradezu in den Mund zu schieben. Und sie irgendwie zu verstehen.

In unserer Clique wurden dann über WhatsApp Links zu Pro-Ana-Seiten getauscht. ‚Dünn sein ist schön – noch dünner ist schöner.‘ Oder ‚Gewicht zu verlieren ist ein Zeichen, dass man auf dem richtigen Weg zur Perfektion ist‘. ‚Bones are beautiful‘, schreiben Mädchen zu Fotos von abgemagerten Frauen. Unter „Thinspiration“ sind zig Blogs dieser Art zu finden. Je näher ich mir diese Seiten anschaute, umso fassungsloser wurde ich. Am meisten ängstigten mich die Tipps und Tricks.

Was, wenn meine Freundin sich auch solche Gedanken macht? Oder wirklich auf solchen Blogs unterwegs ist? Meine Angst wuchs. Denn je länger ich surfte, umso mehr fielen mir Sachen auf, die ich bei ihr auch schon bemerkt hatte. ‚Knäckebrot ist die Lösung für die, die nicht von Chips und so loskommen, es schmeckt toll!‘ Ein anderer Blog empfiehlt Teetrinken als ‚Ablenkung von Hunger und Essen‘, so wie Kaugummis, die sie inzwischen pausenlos kaut. Auch Geräusche machen in der Küche, damit die Mutter denkt, sie mache sich was zu essen.

Seit einigen Monaten ist meine Freundin in Therapie. Am Anfang erzählte sie davon gern. Letzte Woche meinte sie aber, sie wolle damit wieder aufhören.

Ich will wirklich glauben, dass es ihr besser geht. Aber das fällt schwer.“

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