Gesundheit

Krank durch Medien?

Was die Dauernutzung von Smartphone und Co. mit Kindern macht – und wie groß die gesundheitlichen Gefahren im digitalisierten Medienalltag wirklich sind.


Illustration eines menschlichen Herzens mit Beschreibungen
Illustration: Sören Kunz / Wildfox Running

Dem Ulmer Professor für Psychologie Manfred Spitzer war Aufmerksamkeit sicher, als er vor rund drei Jahren mit einem Sachbuch-Bestseller bei den heute Heranwachsenden „digitale Demenz“ diagnostizierte. Seine Schlussfolgerung: Den Nachwuchs könne man am wirksamsten schützen, wenn man ihn bis zur Volljährigkeit von modernen Medien fernhalte. Diese würden „dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich machen“. Lange stand das Buch an der Spitze der Sachbuch-Bestsellerliste. Trotzdem hält sich heute eigentlich niemand an Spitzers Erziehungstipp. Internet-Surfen vor der Volljährigkeit ist selbstverständlich. Laut der neuen DIVSI-Studie (Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet) wird der Umgang mit dem Digitalen heutzutage schon im Windelalter gepflegt.

Wir suchen als Gesellschaft nach Verantwortlichen und Ursachen. Wir glauben, sie mit den digitalen Medien gefunden zu haben – aber das ist viel zu kurz gedacht.

Dr. Stefan Renz

Die DIVSI U9-Studie hat Kinder zwischen drei und acht Jahren in den Blick genommen: „Rund 1,2 Millionen Drei- bis Achtjährige sind regelmäßig online. Kinder, die noch nicht lesen und schreiben können, erkennen entsprechende Symbole, die ihnen den Aufruf von Webangeboten ermöglichen.“ Von den Achtjährigen sei bereits mehr als die Hälfte online. Von den Sechsjährigen gehe fast ein Drittel ins Internet und von den Dreijährigen auch schon jedes zehnte Kind.

Illustration eines menschlichen Gehirns mit Beschreibungen
Illustration: Sören Kunz / Wildfox Running

Druck macht Kinder krank. Nicht die Konsole

Für die Mehrzahl der Eltern ist die Gesundheit ihrer Kinder ein großes Thema. Sie machen sich daher auch ständig Gedanken über den Medienkonsum ihres Nachwuchses. Und fragen sich dann, zugespitz(er)t formuliert: „Machen die Medien und ihre Nutzung unsere Kinder wirklich krank?“ Fragen wir jemanden, der es berufshalber wissen sollte: Dr. Stefan Renz, Kinderarzt im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel und Vorsitzender des Hamburger Landesverbands der Kinder- und Jugendärzte. Renz sind Auswirkungen ungezügelten Medienkonsums tatsächlich nicht unbekannt: „Letztens hatte ich einen zwölfjährigen Patienten in der Praxis, der total müde und abgeschlagen war. Die Eltern konnten sich die Mattheit nicht erklären, der Junge selbst auch nicht. Ich habe ihm dann auf den Kopf zugesagt, dass er wohl einen Fernseher in seinem Zimmer stehen habe.“ Und das stimmte. Diese Sorte „medienmatter Patienten“ spreche in seiner Eimsbütteler Praxis zwar regelmäßig vor. Sie sei aber im Vergleich doch eher selten. Er und seine Kollegen beobachteten stattdessen schon seit Längerem das Auftauchen neuer Krankheitsbilder: „Die klassischen Kinderkrankheiten wie Scharlach oder Röteln verschwinden, dafür kommen unsere jungen Patienten jetzt mit Kopfschmerzen, Schlafstörungen und anderen Stresssymptomen zu uns.“ Die modernen Lebensbedingungen hätten für diese Altersklassen völlig neue Krankheitsbilder geschaffen: „Das kann man jetzt natürlich alles schnell auf die Medien schieben und sagen, die Kids spielen nur noch am Computer und bewegen sich nicht mehr“, sagt Renz.

Doch wer so denke, der mache es sich zu leicht: „Wir suchen als Gesellschaft nach Verantwortlichen und Ursachen. Wir glauben, sie mit den digitalen Medien gefunden zu haben – aber das ist viel zu kurz gedacht. Krank macht die Jugendlichen nach meiner Erfahrung vor allem der heute von vielen empfundene Druck, perfekt sein zu müssen. Und nicht die Konsole.“

Illustration eines menschlichen Auges mit Beschreibungen
Illustration: Sören Kunz / Wildfox Running

Daddeln macht keine Depressionen

Der Berliner Professor für Gesundheitswissenschaft Dr. Klaus Hurrelmann attestiert diese Entwicklung: „Wir haben ein Problem mit den hohen Erwartungen an die Leistungen, die in Kinder und Jugendliche gesetzt werden. Die Krankheitsbilder, die wir an ihnen vermehrt beobachten, sind die der klassischen Managerkrankheiten.“ Das ist nichts, was man in der Welt der Erwachsenen gerne zugeben möchte: dass die Lebensbedingungen, für die wir alle gemeinsam verantwortlich sind, unsere Kinder krank machen können. Und da kommen die digitalen Medien als Sündenbock natürlich gerade recht. Die Verteufelung krankmachender Medien hat das Zeug zur Mainstream-Meinung, wie der Blick in Tageszeitungen jede Woche zeigt: Schmerz durch Überlastung des SMS-Daumens wird erforscht. Schlaflosigkeit durch blaues Bildschirmlicht und psychische Störungen durch Computerspiele. Die gängige Formel lautet: krank durch Medien (siehe S. 4 – 5). Doch: „Meist sind die angeblichen Auswirkungen längst nicht wissenschaftlich bewiesen“, sagt Dr. Stefan Renz. Was plausibel wirkt, muss eben noch lange nicht stimmen. Angebliche Belege dafür, dass digitale Medien auf direktem Wege krank machen, nennen manche Wissenschaftler dann schlicht „Mythen“. So zum Beispiel der Medienpsychologe Professor Dr. Markus Appel von der Universität Koblenz-Landau, der zusammen mit der Diplompsychologin Constanze Schreiner eine Meta-Analyse zu den Spitzerschen Kernthesen erarbeitet hat. Darin wird vieles nicht so heiß gegessen, wie es Spitzer gekocht hat. Im Durchschnitt stehe die Internetnutzung zum Beispiel nur „in einem sehr kleinen negativen Zusammenhang mit Wohlbefinden“, schreiben Appel und Schreiner. Will heißen: Vom Daddeln alleine bekommt man ziemlich sicher keine Depressionen.

Auch zwischen Übergewicht und Computerspielen entdeckten sie nur einen minimalen Zusammenhang. Ihr Fazit: „Die Verbreitung nicht sachgemäßer, alarmistischer Thesen zu den Auswirkungen von Internetnutzung verschleiert den Blick für die Herausforderungen, die mit einer Verbreitung von Computer und Internet im Alltag verbunden sind.“ Man solle sich lieber um echte Medienprobleme wie zum Beispiel Cybermobbing kümmern.

Übergewicht bei Heavy Usern

Trotz dieser klaren Absagen scheint es aber für die Medien-Extremnutzer unter den Jugendlichen gesundheitliche Risiken zu geben. Die Techniker Krankenkasse schreibt in ihrer Studie „Jugend 3.0 – abgetaucht nach Digitalien?“: Rund jeder siebte Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren in Deutschland, der nach Angaben der Eltern „normal“ surft, leidet unter Kopfschmerzen. Bei den elterlich eingestuften „Extremsurfern“ ist hingegen rund jeder Vierte betroffen. Und über 30 Prozent der „Extremen“ leiden an Konzentrationsstörungen. Bei den „Normalsurfern“ sind es nur 12 Prozent. Die Extremkonsumenten sind laut der Studie buchstäblich „Heavy-User“: 15 Prozent von ihnen sind übergewichtig, der Anteil liegt damit 50 Prozent höher als bei den normal surfenden Jugendlichen. Und: Während laut der Studie durchschnittlich gut jeder Zehnte der Jugendlichen in Deutschland zwischen 12 und 17 Jahren Rückenschmerzen hat, ist bei den Extremsurfern fast jeder Fünfte betroffen. Der Hamburger Arzt Dr. Johannes Wimmer, bekannt als Medizin-YouTuber Dr. Johannes und nach eigenen Angaben Vater, Arzt und Netzaktivist, hält diese Ergebnisse allerdings für wenig überraschend: „Es ist wie immer: Die Dosis macht das Gift!“ Die Mehrzahl der angesprochenen Probleme könne man mit gesundem Hausverstand lösen: „Wenn es heißt, Jugendliche würden schlechter schlafen, weil sie nachts von WhatsApp-Nachrichten geweckt werden, dann frage ich mich doch, was die Handys zur Nachtzeit im Zimmer der Jugendlichen zu suchen haben.“

Illustration eines menschlichen Ohrs mit Beschreibungen
Illustration: Sören Kunz / Wildfox Running

Egoshooter gegen Krebs

Statt negativer Auswirkungen sieht Dr. Johannes eher positive: „Es gibt so viele gute Beispiele von medialen Anwendungen, die gerade kranke Kinder stärken, ihnen Ängste und Sorgen nehmen.“ Zum Beispiel Apps, die Kindern mit Diabetes das Leben erleichtern, Egoshooter-Spiele, in denen leukämiekranke Kinder Krebszellen vernichten können. Und die Fülle von Homepages, auf denen sich Selbsthilfegruppen für Kinder mit sehr seltenen Krankheiten vernetzen. Auch die Erfurter Medienpädagogin Dr. Iren Schulz rät dazu, sich dem Themenfeld „Digitale Medien und Gesundheit“ mit einer gelasseneren, positiveren Grundhaltung zu nähern: „Vieles von dem, was als krankhaft dargestellt wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine phasenweise ,Übernutzung‘ von Medien. Die meisten Jugendlichen lernen davon, dass es Folgen hat, wenn man bestimmte Grenzen überschreitet: Ich bin zum Beispiel müde, wenn ich die Nacht im Internet verbracht habe.“ Wenn man sich einmal gelöst hat von dem Gedanken, dass Medien krank machen, und stattdessen den Blick auf womöglich positive Seiten richtet, drängen plötzlich immer mehr gesunde Nebenwirkungen der Mediennutzung ins Blickfeld.

Es gibt viele mediale Anwendungen, die gerade kranke Kinder stärken, ihnen Ängste und Sorgen nehmen.

Dr. Johannes

Schulz weist auf die Apps zu gesunder Ernährung und mehr Bewegung hin: „Eine lustige Lauf-App ist bestimmt um einiges animierender als der Sportlehrer, der brüllt, man solle sich etwas mehr bewegen.“ Dass Medien eine gesundheitsfördernde Funktion haben können, weiß auch die Medienpädagogin Dr. Claudia Lampert, tätig am Hamburger Hans-Bredow-Institut und Koordinatorin des „Netzwerks Medien und Gesundheitskommunikation“. Ungeachtet gesundheitswidriger Angebote würden vor allem die etwas Älteren eine Fülle von Selbsthilfeseiten finden, zum Beispiel zur sexuellen Aufklärung oder zu Essstörungen. „Im Internet können wir Jugendliche mit präventiven Themen dort erreichen, wo sie ohnehin schon sind.“ Ein großes Präventionspotenzial sieht Lampert auch in medienpädagogischen Projekten, in denen Jugendliche krank machende Vorbilder und Verhaltensweisen in Medien analysieren oder sich im Rahmen von Filmclips oder Plakaten zu Themen wie „Saufen“, „Rauchen“ oder „Essstörungen“ mit ihrem eigenen Gesundheitsverhalten auseinandersetzen. Von dieser Sorte Projekte gibt es in Hamburg und Schleswig-Holstein allerdings nicht besonders viele. Medienpädagogik und Gesundheitsförderung: Da gibt es im Norden noch viel Raum für Kreativität.

Illustration einer menschlichen Hand mit Beschreibungen
Illustration: Sören Kunz / Wildfox Running

Die Chancen überwiegen

Medien machen krank – für diese pauschale Diagnose gibt es keine Beweise. Wenn sich Eltern an die grundlegendsten und einfachsten Regeln der Medienpädagogik halten (siehe S. 18 – 19), besteht kaum Gefahr, dass der Nachwuchs an „digitaler Demenz“ erkrankt. Medienbildung ist immer auch Gesundheitsbildung. Nach Einschätzung der meisten den Jugendlichen wohlgesonnenen Experten überwiegen die Chancen bewusster Mediennutzung die möglichen negativen Auswirkungen bei Weitem. Dabei darf allerdings die kleine Gruppe der Extremnutzer, die ihr Leben vor dem Monitor verbringt und ganz sicher einen gesundheitlichen Preis für ihren übermäßigen Medienkonsum zahlen muss, nicht aus den Augen verloren werden. Ausgerechnet dort, wo Kinder in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen und ohnehin mit schlechter Gesundheitsvorsorge leben müssen, finden sich auch Formen extremer und kompensatorischer Mediennutzung. Diese wirken sich zusätzlich negativ auf die Gesundheit der Kinder aus. Darauf weist der Kinderarzt Renz hin: „Was Mediennutzung, Bewegung und gesunde Ernährung betrifft, so gibt es einen weiten Graben zwischen Stadtteilen wie Eimsbüttel und Wilhelmsburg.“


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