„Ist doch okay. Oder?“
Warum „Big Data" ganz unbemerkt zu einer Riesensauerei werden kann.
Ganz ruhig ist es bei den vier Brunners im Wohnzimmer ihrer Wohnung im vierten Stock eines Jugendstilhauses im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Alle sind im innigen Austausch mit elektronischen Geräten: Mama Kathrin, Papa Martin, die Kinder Lelia (13) und Max (11). Die Mama wischt über ihr Tablet und schaut in der „Baby-Gruppe“ auf Facebook vorbei, wo sich jüngere Yoga-Bekannte mit Videos vom Nachwuchs überbieten. Lelia wünscht sich nichts sehnlicher als rote Chucks, hat die Familie in den vergangenen Tagen mit diesem Begehren genervt. Mit dem abgelegten Smartphone ihrer Mutter hat sie schon auf eBay geschaut, greift nun zum Laptop, sucht mit Google Shopping, schaut dann auf Zalando nach: „Sonderangeboooot! Papa, darf ich?“
Max daddelt derweil gerade „Plants vs. Zombies“. Mama schaut sich inzwischen auf dem Tablet nach Ferienhäusern in Småland um. Das wäre schön, ein Sommerurlaub im kleinen roten Haus am See. Papa hat nachgegeben, die Chucks dürfen gekauft werden. „Ist doch okay, Kathrin, oder?“ Die Mama nickt: Der Preis geht wirklich in Ordnung. Gezahlt wird ganz praktisch per PayPal, das soll sicherer sein als mit Kreditkarte.
Nach der Transaktion fordert Papa das Tablet ein, weil er noch auf faz.net einen Kommentar lesen will. Da taucht Ikea-Werbung auf. Als er später auf eBay noch nach einer neuen Fototasche fahndet und nachschaut, ob sich seine Comic-Sammlung in den Versteigerungen gut hält, werden nach dem Einloggen skandinavische Designklassiker angeboten. Und rote Chucks in Damengrößen. Lelia hat derweil mit dem Smartphone einen Screenshot ihrer neuen Chucks auf Facebook gepostet – „Cool, von Zalando und superbillig!“ – und gleich noch ihr Profilbild mit einem Kussmund-Selfie erneuert. Max sucht nach Kleingeld, das aus seiner Hosentasche unters Sofa gekullert ist. Dafür lädt er sich schnell eine kostenlose Taschenlampen-App aufs Telefon. Den AGB stimmt er direkt zu. Dann chattet er noch mit Freunden auf WhatsApp. Er fragt, was für einen Rucksack er für die Schule kaufen soll, und ob gestern beim Geburtstag wirklich so eine Bombenstimmung gewesen sei.
Eine Stunde Mediennutzung im Leben der Brunners ist verstrichen. Alle vier haben, in aller Stille und ohne es zu bemerken, beträchtliche Datenspuren hinterlassen. Auf dem Laptop finden sich, obwohl im Browser in den Datenschutz-Einstellungen nur die Cookies der besuchten Seiten erlaubt waren, über 60 der kleinen Schnüffel-Programme. Mehr als die Hälfte davon dient ausschließlich dazu, das Surfverhalten auf dem Laptop zu analysieren: Welche Seiten wurden aufgerufen, wie lange genutzt, was wurde angeklickt? Irgendwo da draußen, in riesigen gekühlten Serverhallen, sind die Eckdaten zu einem Nutzerprofil zusammengefügt: E-Mail-Adressen, Kontodaten, Lieferadressen, Shopping-Vorlieben, Schuhgrößen, politische Interessen. Die Brunners sind gläserne Kunden geworden.
Denn alles, was die Brunners jemals auf eBay gesucht, gekauft oder verkauft haben, ist für die Ewigkeit gespeichert. Auch alle getätigten Google-Anfragen werden unendlich lange gesichert, auf Servern in Ländern, die keine Datenschutzrechte nach europäischen Maßstäben kennen. Bei WhatsApp – gehört zu Facebook – liest übrigens die NSA mit, bei Max besteht im Moment wegen der Stichworte „Rucksack“ und „Bombe“ Terrorverdacht. Zum Verdächtigenkreis gehören leider automatisch auch Freunde von Freunden. Der ins Visier genommene Kreis erweitert sich auf eine Personenanzahl im sechsstelligen Bereich. Und die Taschenlampe – sie ist nichts anderes als ein Datenschnüffel-Programm, bei dem der User alles zum Auslesen freigibt, was sich auf dem Handy befindet – samt seinem Bewegungsprofil.
Big Data wird diese automatisierte Auslesung und Verknüpfung riesiger Datenmengen genannt. Mit Big Data ist heute Realität, was früher Science-Fiction war: eine Welt, in der Computer alle Lebensbereiche durchdringen. Schöne neue Datenwelt.
Willkommen in der Zukunft, schon heute.
Der Artikel ist in der scout-Ausgabe 2_2014 erschienen.