Fasebük, o weh!
Almut Siegert, Journalistin und Mutter, hatte die Tochter von Freunden aus Frankreich zu Gast. Dabei erlebte sie, wie wichtig Jugendlichen heute Internet und soziale Netzwerke sind und fragt sich seitdem: Warum ist das so?
Der Himmel ist knallblau. Hamburg zeigt sich von seiner besten Seite. „Hallo, ich freue mich zu sein hier“, begrüßt uns unser Pariser Gast am Flughafen. Catherine (Name von der Redaktion geändert) will zwei Wochen in der Geburtsstadt ihrer Mutter verbringen – und ihr Deutsch verbessern. Auf der S-Bahn-Fahrt schreibt sie ihrer Maman schnell eine SMS „bien d’arrivée, bisou c.“ und lässt unsere neunjährige Tochter mit ihrem Handy spielen. „Leider nicht internetfähig“, beklagt sich Catherine.
Die ersten Tage verbringen wir mit kleinen Ausflügen und ganz normalem Alltag. Überraschung: Die 14-Jährige, die morgens eine Stunde im Badezimmer braucht, kickt meisterhaft. Mit unserem sechsjährigen Sohn gewinnt sie gegen die türkischen Champions auf dem Bolzplatz um die Ecke. Bio-Limonade findet Catherine drollig, ebenso, dass unsere Kinder noch nie Muscheln gegessen haben.
Dann schwindet Catherines Heiterkeit. Sie erzählt weniger. Am dritten Morgen ihres Aufenthalts lässt sie über unseren Sohn ausrichten, dass sie noch müde sei und später frühstücken würde. Pubertät? Vermisst sie Paris? Was ist los mit Catherine?
Wir machen uns so lange Sorgen, bis wir sie fragen. Heimweh hat sie nicht. Jedenfalls nicht so, wie wir denken. Es ist nur wegen Fasebük. Wir halten diesen Fasebük für einen – ganz kurzen – Augenblick für ihren Freund. Dann erkennen wir in den französischen Lauten das englische Wort: Facebook. Kann es wirklich sein, dass eine 14-Jährige schlechte Laune hat, weil sie nicht ins Internet kann?
Kann es wirklich sein, dass eine 14-Jährige schlechte Laune hat, weil sie nicht ins Internet kann?
Forscher der Universität Maryland/USA und der Salzburg Academy on Media and Global Change haben Studierende aus Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika gebeten, für 24 Stunden auf Mobiltelefon, Internet und Fernsehen zu verzichten. Anschließend erzählten die Testpersonen, wie sie sich während der digitalen und medialen Abstinenz gefühlt hatten: Einige Studenten beschrieben ihre Verfassung als ängstlich und unruhig. Andere langweilten sich, hatten Fressattacken, litten an Nervosität und Frustration und fühlten sich schmerzhaft isoliert.
Als wir Catherine gestatten, unseren Computer zu benutzen, ist sie tatsächlich wieder bester Laune. Noch vor dem Frühstück sitzt sie am Rechner. Und auch am restlichen Tag verschwindet sie bei jeder Gelegenheit mit den Worten: „Isch schau Fasebük“ ins Arbeitszimmer. An Tag drei nach Fasebüks Einzug fühle ich mich genötigt, Catherine zu ermahnen, den Rechner auch mal wieder auszuschalten. „Oder ist das jetzt normal bei Jugendlichen?“, frage ich meinen Mann. Ich überlege kurz Catherines Mutter anzurufen, um zu erfahren, welche Regeln in Paris für Facebook und Internet gelten. Es gibt hier in Hamburg so viel für Catherine zu entdecken. Warum vergeudet sie Stunden damit, mit ihren Freundinnen zu chatten, die sie in sieben Tagen wiedersieht? Als ich sie vorsichtig frage, erklärt sie mir, wie viel Spaß das macht und dass sie halt wissen will, was bei ihren Freunden los ist.
Dass Menschen sich auch virtuell isoliert fühlen können, zeigten die Versuche von Naomi Eisenberger an der University of California in Los Angeles. Testpersonen spielten dabei „CyberBall“. Nach einiger Zeit wurde das Programm so verändert, dass die Probanden den Eindruck gewannen, die jeweils anderen beiden Mitspieler ließen sie nicht mehr mitspielen. Obwohl es nur ein kleines Computerspiel war, führte das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, zu einer starken Aktivität im Schmerzzentrum ihres Gehirns.
Gibt‘s Fasebük eigentlich auch auf Deutsch?
Leidet unsere Catherine, weil durch die Reise nach Hamburg die digitale Verbindung zu ihren Freunden gekappt ist? Sind zwei Wochen „ohne“ so schwer auszuhalten?
Rudolf Kammerl, Professor für Medienpädagogik an der Universität Hamburg, hat untersucht, wie verbreitet exzessive Internetnutzung bei Jugendlichen tatsächlich ist. Er sagt: Ja, es gibt suchtartiges Verhalten. Aber es kommt seltener vor, als Mütter und Väter befürchten. In seiner Stichprobe beschreibt dennoch ein Viertel der Eltern das Internetverhalten ihrer Kinder als ausufernd und problematisch. „Als wir die Kriterien der Suchtforschung einbezogen, zeigte sich, dass man tatsächlich nur bei sechs Prozent der Jugendlichen von suchtähnlichem Verhalten sprechen kann“, erklärt Kammerl. „Bei der Hälfte der besorgten Eltern waren die Ängste unbegründet, beziehungsweise ihre Maßstäbe sehr streng.“
Sorgen muss ich mir also nicht machen. Nur: Wo hört „gerade richtig“ auf und wo beginnt „viel zu viel“?
Bedenklich wird es, sagt Kammerl, wenn längerfristig andere Lebensbereiche leiden, Jugendliche sich Chancen verbauen und Kontakte vernachlässigen. Und sicher ist: Eine problematische Medienkarriere hat immer eine Vorgeschichte – und zwar offline. Bislang gibt es wenige Längsschnittstudien, die ein klares Bild über Ursachen und Wirkungen liefern, aber erste Befunde zeigen: Die Beziehungen innerhalb der Familie spielen eine bedeutsame Rolle. Bei Kindern aus belasteten Familien, die beispielsweise Scheidungen und Trennungen erlebt haben, tritt exzessive Internetnutzung häufiger auf. Positiv wirkt sich ein gutes Familienklima aus, Gespräche, Offenheit und die Fähigkeit, gemeinsam Probleme zu lösen. „Verbote machen Kinder und Jugendliche nicht zu schlauen Mediennutzern. Sie müssen schließlich lernen, selbst gesteuert mit Internet und Fernsehen umzugehen.“ Die elterliche Kunst besteht darin, altersgemäße Freiräume anzubieten. Ein Grundschüler braucht dabei engere Vorgaben als eine 14-Jährige. „Innerhalb der von den Eltern gesetzten Grenzen sollten sich Kinder und Jugendliche mehr und mehr frei bewegen und eigene Entscheidungen treffen dürfen“, so Kammerl, der selbst Vater von vier Kindern ist. Ebenso wichtig sei es, dass Eltern sich auf die Interessen ihres Nachwuchses einlassen, um die Faszination wirklich zu verstehen.
Eltern fehlt manchmal das Bauchgefühl
Als Catherine mal wieder auf Fasebük unterwegs ist – unsere Tochter ist längst ihre ergebene Gefolgsfrau und kennt schon die Hälfte von Catherines Freunden – stelle ich mich dazu. Catherine zeigt mir ein Tanzvideo, das sie mit ihren Freunden vor den Ferien gedreht hat. Es ist toll! Ich frage sie, wie sie den Film geschnitten haben. Da gäbe es kostenlose Programme, alles ganz einfach, erklärt sie mir lässig. Dann zeigt sie mir die Facebook-Seite der Schule, auf die sie nach den Ferien gehen wird. „Ich bin schon mit drei Leuten aus meiner neuen Klasse befreundet“, sagt sie. Auf Fasebük, schon klar! Aber wie wäre es jetzt mit einem Ausflug an die Elbe? Oder ist das an einem heißen Sommertag ein verwegener Vorschlag?
Experte Kammerl: „Eltern fehlt manchmal das Bauchgefühl. Sie fühlen sich unsicher, und können Motive und Empfindungen ihrer Kinder nur begrenzt nachvollziehen, weil sie anders aufgewachsen sind.“ Bei älteren Kindern müsse man zunehmend eine Verhandlungsrolle einnehmen.
Als Catherine abreist, fragt unsere Tochter (wie gesagt: neun Jahre alt): „Gibt’s Fasebük eigentlich auch auf Deutsch?“ Ich nicke nur.
P.S. Inzwischen ist Catherine 17 Jahre alt. Heute sagt sie: „Facebook ist unwichtiger geworden. Man guckt halt schnell, was los ist. Ich könnte auch ohne gut zurecht kommen.“ Mit Lotti hingegen, die jetzt bald zwölf Jahre alt wird, führen wir nahezu täglich Diskussionen über „WhatsApp“ und ob sie endlich auf Facebook darf – eine Anmeldung ist erst ab 13 Jahren erlaubt. Aber dank Catherine weiß ich ja: Fasebük, es ist nur eine Phase.
Dieser Text ist in der scout-Ausgabe 1_2013 erschienen.