Es ist eine Welt, in die ich nicht geboren wurde
Was ihre Kinder mit Headset auf dem Kopf und Steuerung in der Hand treiben, ist vielen Eltern zutiefst fremd. scout hat sich bei einem Computerspiel-Infoabend umgehört, um zu erfahren, was sie am meisten bewegt.
Das Gymnasium Heide-Ost hat sich in Nebel und Nieselregen gehüllt. Es liegt an diesem Winterabend da wie ein gestrandetes Raumschiff. Drinnen brennt Licht im Foyer und auf den langen Gängen, aber es ist niemand zu sehen. Aus dem nördlichen Trakt sind Geräusche zu hören, gedämpft durch die Holztür der Aula, je näher man kommt, umso schrecklicher klingen ie: Schüsse, Schreie, Getöse. Im Raum spielt sich ein Gemetzel ab, eine Schlacht mit Äxten, Messern, Schwertern und Schnellschussgewehren. Allerdings nur auf der Beamer-Leinwand. Dem projizierten Kampfgemenge folgen rund 30 Augenpaare von Erwachsenen, Eltern von Schülern der 5. bis 9. Klasse des Gymnasiums. Sie schauen sich die animierten Gewaltexzesse einer Runde „Fortnite“ an.
Vorgestellt wird das bei Kindern und Jugendlichen momentan sehr populäre Online-Computerspiel vom „GameTreff“-Team des Offenen Kanals Schleswig-Holstein (OKSH). Der GameTreff wurde erfunden, um Eltern Einblick in die Welt der Computergames zu geben, in die sich ihrer – der Eltern – Meinung nach zu viele Kinder verlieren: Die Kinder sitzen zu Hause, im elterlichen Heim, und doch in einer fremden Welt. Die heißt dann „League of Legends“, „Minecraft“, „Counter Strike“, „Clash Royale“ oder eben „Fortnite“. Bunt, schillernd, spannend, zeitraubend.
„Und was treibt Sie hierher?“, ruft Henning Fietze vom OKSH, der den Abend moderiert, in die Stuhlreihen hinein. Eine Mutter sagt: „Ich möchte einfach mal wissen, was das für Spiele sind, in die mein Kind abtaucht.“ Eine weitere sucht klare Ansagen: „Wie viel Zeit in welchem Alter ist okay?“ Sorgen werden vorgebracht: „Welche Spuren hinter- lässt das?“ Eine Mutter berichtet: „Wenn meine Jungs spielen, können sie nachher keine Vokabeln mehr üben. Die sind dann megaschlecht gelaunt, fix und fertig, denn das Spielen strengt sie richtig an.“ Mehr als einmal wird das Bedenken geäußert, „das Soziale könnte leiden“. Oder es gäbe vielleicht „muskuläre Probleme vom vielen Sitzen“. Die größte Sorge aber ist: dass die Kinder „irgendwie süchtig werden könnten“. Eine Mutter trägt ein ganz anderes Problem vor: „Wir wurden in der Schule von einem Mitarbeiter angesprochen, weil unser Sohn unter der Woche nicht spielen soll – es bestünde die Gefahr, dass er zum Außenseiter werde.“ Eine weitere Mutter fasst die geballte Ratlosigkeit im Saal zusammen: „Das ist eine Welt, in die ich nicht geboren wurde und die ich nicht verstehe.“ Die meisten eint also, dass sie eher Unbehagen und Ratlosigkeit als freundliches Interesse hierhergebracht haben.
Henning Fietze betrachtet diese Reaktionen hingegen erst einmal sehr positiv: “Ich sehe Eltern, die sich kümmern. Sie erkennen ein Problem. Das bedeutet: Ihre Kinder sind Ihnen nicht egal!” Er will den ELtern binnen drei Stunden per Crash-Kurs vermitteln, welche Spiele beliebt sind (und vor allem: warum) und wie sie funktinionieren. Angereichert mit Fakten zu In-Game-Währungen, dem Sinn von Alternebgrenzungen und vielem weiteren Wissenswerten mehr. Der Kieler Medienpädagoge bietet den Eltern EInblicke in die fremde Welt ihrer Kinder: Damit Sie am Ende des Abends fundiert den Kopf schütteln – oder eben auch nicken können!”
Vorgestellt und mitgespielt warden an diesem Abend diverse Games, im Zentrum aber steht der derzeitige Dauerbrenner “Fortnite”, bei dem im sogenannten “Battle-Royale-Modus” jeweils 100 Spieler gleichzeitig, von einem magischen fliegenden Bus abspringend, mit dem Fallschirm in einer Landschaft landen, deren Fläche sich kreisrund immer weiter verengt, während sich die Spieler gegenseitig im Wafenkapf ausschalten. Wer landet, muss sich schnell mit passenden Waffen und diversen Vorteilen ausstatten. Ein Gimmick: Wer Holz hackt, kann das im Kampf zu Abwehr-Barrikaden aufhäufen und so sein Überleben absichern.
Die Eltern haben es in ihrem ureigenen Kampf um Zeit und Aufmerksamkeit mit einem mächtigen Gegner zu tun, das wird beim Spiel von „Fortnite“ schnell klar: Die Dramatik ist mitreißend, das Spiel wendungsreich und sehr spannend, es geht rasant auf den großen Showdown zu. Der GameTreff-Vorspieler ist nun Teil einer Gruppe von vier Kämpfern, der er sich in der „Lobby“ des Spiels angeschlossen hat, dem virtuellen Treffpunkt des Spiels, in dem Kämpfergruppen zufällig zusammengewürfelt werden. Über den „Team Speak“ – den Echtzeit-Funk der Kombattanten – muss er sich nun Spott für seine fehlenden Tötungs-Skills anhören: „Der trifft nicht“, sagt die Stimme eines Jungen, vielleicht elf bis zwölf Jahre alt. Einer Mutter geht ein Licht auf: „Das könnte auch mein Sohn sein?“ Sie schaut in die Runde, viele müssen lachen angesichts dieser Erkenntnis. „GameTreff7“ stirbt, der Vorspieler fragt: „Noch eine Runde?“ „Ja!“, rufen mehrere Eltern zurück. Und: „Wann tanzen wir endlich?“ Schließlich ist „Fortnite“ wegen der Siegertänze bekannt geworden, die man angesichts eines dahingestreckten Gegners aufführt. Die Frage zeigt aber, dass Eltern keinen Schimmer haben. Die Lizenz zum Tanzen muss man sich durch erfolgreiches Kämpfen erarbeiten, mühsam und langwierig. Der schnellere Weg: sie im Store des Herstellers kaufen, für die In-Game-Währung namens „V-Bucks“. Oder für echte Euro. So werden auf eBay Spieleridentitäten für gutes Geld versteigert, samt der sogenannten „Skins“, wie individuell zusammengestellte Figuren-Outfits heißen. „Verstehe ich nicht“, sagt eine Mutter.
Drei Stunden lang haben die Heider Eltern zugeschaut und zugehört. Haben selbst Virtual-Reality-Brillen aufgesetzt, mit „Minecraft“ Städte gebaut und als schwer bewaffnete Elitekräfte versucht, Geiseln aus Terroristenhand zu befreien. Dabei sind sie miteinander ins Gespräch gekommen. Ein Vater erzählt, ihn interessiere besonders, wie andere Eltern es mit der Medienerziehung halten, er selbst sei eher streng und klar in den Regeln: „Ich habe den Eindruck, die meisten anderen hier sind da nicht so strikt.“ Eine Mutter lacht und sagt: „Genau deshalb wollten meine Jungs auch nicht, dass ich hierherkomme – sie haben Angst, dass ich ihnen das Spielen stärker einschränke.“
Was nehmen die Eltern mit nach Hause? Eines wird an diesem Abend in Heide klar: Eltern wünschen sich von ganzem Herzen eine einfache Erziehungsformel mit konkreten Anweisungen für alle Altersklassen, um dem Faszinationssog der Games etwas entgegensetzen zu können: „eine Marschrichtung“, „etwas, worauf wir uns berufen können“. Das aber funktioniert je früher, desto besser, weiß Henning Fietze: „Mein Tipp ist: Schon von Anfang etablieren, dass der Wecker irgendwann klingelt.“
Dieser Artikel stammt aus dem scout-Heft 1/2019: "Die wollen doch nur spielen!"