Du willst was, was wir nicht wollen!
Kinder und Eltern bewerten die Risiken der Sozialen Medien unterschiedlich. Eltern sehen Gefahren. Die Kinder wehren mit einem „Chill mal!“ ab. Und wer hat jetzt Recht?
Pia ist 12 Jahre alt und auf Instagram. Ihr schreibt ein 14-jähriger Junge. Er sieht gut aus auf dem Profilfoto. Er ist neu in der Stadt. Sie beginnen zu chatten. Er macht ihr Komplimente, nennt sie eine „gute Zuhörerin“. Sie erzählt von ihren Hobbys und was sie sonst so gerne macht. Ein normales Gespräch unter Jugendlichen. Nach ein paar Tagen fragt der Junge Pia, ob sie schon einen Freund habe. Ob sie schon einmal geküsst hätte? Oder Sex gehabt? Er wäre so gerne der Erste, es würde so gut passen. Ob sie ein Nacktbild von sich schicken könne. Was Pia tut.
Womit sich schnell der Ton ändert. Der Junge, das Bild als Druckmittel nutzend, schlägt ein Treffen vor. „Pia ging zu ihren Eltern, die zeigten den Jungen an. Er stellte sich als 42 Jahre alter Mann heraus, der einschlägig vorbestraft war“, erzählt Sozialpädagogin Alena Mess von „Dunkelziffer e. V.“, einem bundesweit aktiven Verein mit Sitz in Hamburg, der sich für sexuell missbrauchte Kinder einsetzt.*
„Cybergrooming“ heißt diese kriminelle Vorgehensweise, die Erwachsene nutzen, um Minderjährige mit einem altersmäßig passenden „Alias“ online zu kontaktieren. Um sie sexuell auszubeuten und in letzter Konsequenz auch zu missbrauchen. Es ist sicher einer der perfidesten Auswüchse, die in den Sozialen Medien zu beobachten sind. Jugendliche erkennen die Gefahr nicht, „weil sie sich zu Hause eigentlich sicher fühlen“, sagt Alena Mess. „In der Welt da draußen, also der ‚Offline-Welt‘, haben sie das ‚Lass dich nicht von Fremden ansprechen‘ in der Regel verinnerlicht. In den digitalen Räumen versagt dann das gesunde Misstrauen.“ Kinder tappen da in Fallen. Und Eltern im Dunkeln: Pias Eltern wussten nicht, dass Instagram „ab 13“ ist. Und sie dachten, Instagram sei eben die Plattform mit den schönen Bildern und Filmchen. Was soll da schon Schlimmes passieren?
Cybergrooming ist eine besonders schlimme Ausprägung von „interaktionsgebundenen Risiken“ im Internet (so nennen Medienwissenschaftler*innen das). Dazu zählen auch Cybermobbing und Sexting. Letzteres ist das einvernehmliche Austauschen erotischer Bilder im Rahmen einer Partnerschaft. Nicht selten werden diese Bilder – nach dem Beziehungs-Aus – als Rache an Ex-Partner*innen im Freundeskreis herumgezeigt. Meist sind es Bilder der Mädchen, welche die Runde machen. Die Grenzen zum Cybermobbing sind fließend, die Weiterführung des klassischen Pausenhof-Mobbings in digitalen Medien.
Beim Cybermobbing werden die Betroffenen überall und rund um die Uhr belästigt und verfolgt. Oft ohne größeres Schuldbewusstsein. Beleidigungen und Herabwürdigungen sind schnell verschickt. „War doch gar nicht so gemeint, sagen die Schüler*innen erst“, erzählt Tina Widderich, die als Schulsozialarbeiterin an einer Flensburger Gemeinschaftsschule arbeitet: „Wenn ich ihnen die Verläufe dann vorlese, sind sie fix und fertig. Es wird ihnen dann oft erst klar, was sie mit solchen Sprüchen anrichten.“ Im Chat fehlten die Reaktionen des Gegenübers. So bleibe die Empathie auf der Strecke. Die Probleme, bei denen Tina Widderich tätig werden muss, resultierten in der Regel aus unbedachtem Handeln: „Ein Bewusstsein für Risiken und Folgen ist erst einmal nicht vorhanden, besonders bei den jüngeren Schüler*innen“, erzählt sie: „Das kommt erst, wenn etwas passiert ist.“
Natürlich sind „schlimme Vorfälle“ die Ausnahme beim digitalen Medienkonsum des Nachwuchses. Die meiste Zeit geht es ja gut aus, wie die Forscher*innen der EU Kids Online Studie 2019 feststellen: „Die Befunde machen deutlich, dass nicht alle risikobehafteten Medienphänomene zwangsläufig eine negative Erfahrung nach sich ziehen.“ Was riskant ist, darüber sind sich Eltern und Kinder meist nicht einig. „Inzwischen machen sich mehr Eltern Sorgen um das Offline-Treffen von Online-Bekanntschaften als über den Umgang ihrer Kinder mit Alkohol oder Drogen“, sagt Kira Thiel, die bei der EU Kids Online Studie mit geforscht hat. Eltern sehen im Gamer-Treff in der Realwelt eine mögliche „Anbahnung“ und schreien: „Risiko!“. Wenn hingegen die minderjährige Tochter nach 22 Uhr „auf Insta“ chattet, bleiben sie ruhig.
Olivia Förster, Medienpädagogin (unter anderem für Blickwechsel e.V.) hat diesen Widerspruch bei Eltern schon häufiger beobachtet: „Bei Medien, die sie selbst nutzen, schätzen sie Risiken niedriger ein.“ Ein weiteres Beispiel: Genau auf dem Whats- App, mit dem Eltern sich so gerne in Gruppen verständigen, schicken sich Fünftklässler*innen den „Momo“-Kettenbrief, der Kindern mit dem Tod droht, wenn sie ihn nicht weiter versenden.
Es existiert fast überall ein Spannungsfeld aus den Sorgen der Eltern und dem völlig anders gelagerten Risikobewusstsein ihrer Kinder. Schulsozialarbeiterin Tina Widderich weiß: „In den Chat-Gruppen der Schüler*innen kursieren Sachen, von denen die Eltern nicht den blassesten Schimmer haben.“ „Sticker“ mit Nazi-Inhalten. Pornografische Bilder und Filme. Gewaltdarstellungen – wie zum Beispiel im Jahr 2018, als an ihrer Schule ein Video die Runde machte, in dem Kinder von IS-Kämpfern enthauptet wurden. Was so unfassbar grausam ist – das haben sich viele Schüler*innen angesehen: „Da zählt dann, dass es ‚krass‘ ist. Dass man es ‚ausgehalten‘ hat.“ Einige der Schüler*innen hat das Video über Wochen schwer belastet.
Wer mit den vielen Betroffenen spricht, hört eine Menge Schuldzuweisungen. Die Eltern seien am Zug. Die Schule solle sich kümmern. Die Schüler*innen müssten verantwortlicher handeln. Oder der Ton ist verständnisvoll: Die Eltern könnten das alleine nicht leisten. Die Schule sei nicht darauf vorbereitet. Die Schüler*innen bekämen doch von keinem das Rüstzeug, um verantwortlich mit den Medien umzugehen. „In dieser Situation sollte man sich dann doch sagen: Wir müssen das alle gemeinsam angehen – also Eltern, Kinder und die Schule“, appelliert Tina Widderich.
Manchmal müssen dann auch noch Beratungsstellen der Schulbehörde und der Polizei mit eingebunden werden. Wie an der Stadtteilschule Poppenbüttel. Philipp Dresewski, Abteilungsleiter 5. bis 7. Klasse, erzählt: „Wir hatten den Fall, dass zu Schuljahresbeginn Schüler*innen auf ihren Handys kinderpornografische Bilder teilten. Wie aus dem Nichts ploppte das auf. Wir waren in großer Sorge!“ Man ging sofort ins Gespräch: mit dem Elternrat, mit den Lehrkräften, natürlich auch mit den Schüler*innen – „und wir kontaktierten die ‚Beratungsstelle Gewaltprävention‘ der Behörde für Schule und Berufsbildung in Hamburg.“ **
Die ist Teil eines weitgespannten Beratungsnetzes (samt 13 Hamburger Regionalen Bildungs- und Beratungszentren/ReBBZ), das Schulen nutzen können. Das 20-köpfige Team hilft konkret bei der Einordnung solcher Ereignisse: Überdramatisieren wir? Oder spielen wir einen schlimmen Sachverhalt herunter? Wie gehen wir jetzt richtig vor? „Schulen sind auf die herausfordernden Situationen, die bei der Bearbeitung solcher Vorfälle zwangsläufig entstehen, häufig nicht vorbereitet“, sagt Dr. Christian Böhm von der Beratungsstelle: „Handeln ist jedoch in jedem Einzelfall wichtig!“ Insbesondere gravierende Straftaten oder „sexualstrafrechtlich relevante Übergriffe“ in Schulen müssten aber auch polizeilich angezeigt werden. Für die Beurteilung können schnell und ohne viel Bürokratie die rund 240 Hamburg Schul-Kontaktbeamt*innen – die „Cop4U“ – bei der Einordnung helfen.
Jede Hamburger Schule hat eine solche Ansprechperson. Einbezogen werden kann auch die übergeordnete „Fachstelle Kriminalprävention“ des LKA Hamburg. Mancher mag das überzogen finden. Nach dem Motto: Die haben Mist gebaut. Nun haben sie es Nun haben sie es verstanden. Jetzt ist es auch gut! Andreas Mackenthun von der „Fachstelle Kriminalprävention“ stellt aber klar: „Wir müssen als Polizei eingreifen, wenn es ein Opfer gibt. Das Leiden der missbrauchten Kinder von den Fotos und aus den Filmen könnte ja noch fortdauern. Da haben wir keine Wahl: Die Staatsanwaltschaft muss ermitteln.“
Das unbedachte Weiterleiten „krimineller Inhalte“ sorgt nicht selten auch bei den Verursacher*innen für nachträgliches Leiden. Wie bei dem Poppenbütteler Schüler, der die Bilder als erster in den Chat leitete, erzählt Philipp Dresewski: „Das wirkt jetzt zwei Monate später noch nach. Er wusste einfach nicht, was er tat. Als er es dann verstanden hatte, belastete es ihn sehr. Deshalb sind wir wöchentlich mit ihm im Gespräch, um ihn aufzufangen.“ Für Dresewski war das Ganze übrigens der Startschuss, ab jetzt verstärkt mit den Eltern in Sachen Medienkompetenz ins Gespräch zu kommen. Damit die es weitergeben: „Eltern müssen mehr mit ihren Kindern in den gemeinsamen Austausch gehen. Aus diesem Grund haben wir uns externe Hilfe geholt und veranstalten einen Online-Elternabend zu diesem Thema.“
Wir müssen also reden. Das Gespräch der Eltern mit ihren Kindern ist sehr wichtig, das sagen alle Expert*innen. „Die Eltern kennen sich oft viel zu wenig aus, kennen die vielen verschiedenen Plattformen mit ihren ganzen Funktionen kaum. Wie sollen sie da die wirklichen Risiken beurteilen können?“, fragt Alena Mess von „Dunkelziffer“: „Genau wie im echten Leben sollten Eltern die Bewegungen ihrer Kinder auch bei den Online-Medien immer im Blick behalten. Aus ‚Wo gehst du hin, wen triffst du, was macht ihr dort, wie lange bleibst du?‘ wird dann in der Online-Welt: ‚Welche Apps nutzt du, wer sind die Menschen, mit denen du online im Kontakt bist? Warum sind die Social-MediaPlattformen (oder die Onlinespiele) so wichtig für Dich?‘ Und: ‘Wann legst Du das Handy/das Tablet wieder weg?‘“
Das Motto ist: „Kommunikation, ja bitte – aber nicht von oben herab!“ Dr. Jutta Wedemann, bis zum Sommer Sozialpädagogin beim Elmshorner Träger „Wendepunkt“ und seit September Professorin an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, weist darauf hin, dass es „ein echter Dialog und kein Monolog sein sollte, bei dem die Eltern ihre ‚Gefahrenleier‘ runterrattern, und das war’s dann.“ Echter Dialog bedeute: „Das muss auf Augenhöhe passieren, interessiert, wertschätzend.“ So reiße auch der Kommunikationsfaden nicht, wenn die Kinder älter würden. Wichtig, so Wedemann, sei auch, dass die Kinder, wenn sie sich mit einem Problem öffnen, zuerst einmal Gehör fänden. Und nicht sofort mit Konsequenzen rechnen müssen: „Denn dann würden sie beim nächsten Mal, wenn es Probleme gibt, nicht mehr zu den Eltern kommen.“
Je älter die Kinder werden, umso mehr hat auch die Peer Group ein Wörtchen mitzureden. Das gehört zum normalen Ablösungsprozess dazu. Genau deshalb wurden vor rund zehn Jahren Das gehört zum normalen Ablösungsprozess dazu. Genau deshalb wurden vor rund zehn Jahren die Hamburger „MedienScouts“ gegründet, die heute vom Träger TIDE (Hamburgs Communitysender und Bürgerkanal) in Kooperation mit dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (LI) losgeschickt werden. Acht- und Neuntklässler*innen ergänzen so die Medienkompetenzbildung in den Schulen, um für den Januskopf „Chancen und Risiken“ zu sensibilisieren: „Die Scouts bringen das vielleicht nicht immer so komplex rüber wie wir Erwachsenen. Dafür sind sie als ‚Große‘ viel bessere Vorbilder – und in den Augen der Jüngeren schon deshalb glaubwürdiger, weil sie im Gegensatz zu den Erwachsenen selbst mit Social Media aufgewachsen sind“, sagt Olivia Förster, die das MedienScout-Programm federführend mit aufgebaut hat.
Ihre Erfahrung: „Wenn die Scouts sagen ‚Lasst das mal lieber sein‘, dann hat das seine Wirkung. Sagen es die Eltern, geht es gerne mal ‚links rein, rechts raus.‘“ Und sie hat noch einen weiteren Tipp: „Diese ganze Trennung von Online- oder Offline-Welt, in der wir Erwachsenen denken, ist überholt. Klassenregeln müssen so gedacht und formuliert werden, dass sie immer gelten, also auch auf WhatsApp.“ Risiken für Kinder und Jugendliche gab es schon immer. Unbedarfte Kinder auf der einen Seite. Auf der anderen besorgte Eltern, die ihre Kinder beschützen möchten. Aber nicht alles haben Eltern im Griff. Dinge können schiefgehen. Doch es gehört zum Erwachsenwerden, losgelassen zu werden. Um eigene Erfahrungen zu machen. Das gilt analog wie digital. Und auch wenn es manchmal schwerfällt: Es ist Aufgabe der Eltern, mit genau diesem Zwiespalt umzugehen.
*Ein echter Fall mit geändertem Namen.
**Infos für Lehrer*innen auf www.hamburg.de/gewaltpraevention.de