Selfies

Die Anbetung der Könige des Selbst

Selfies sind nur was für Narzissten. Oder?


Collage von Gemälden adliger Personen die ein Selfie von sich machen
Foto: © Olivia Muus/action press (Collage)

Im Alter von 15 Jahren fing der Brite Danny Bowman mit dem obsessiven Selfie-Fotografieren an. Täglich, viele Stunden, auf der Suche nach dem perfekten Bild von sich selbst.

Er schlich sich dafür sogar heimlich aus dem Schulunterricht. Ohne Smartphone wurde er aggressiv. Er flog von der Schule. Er nahm dramatisch ab. Monatelang blieb er zu Hause, doch das perfekte Selfie bekam er nicht hin. Schließlich versuchte er, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen.

Solche dummen Geschichten kann man manchmal in der Boulevardpresse lesen. Das Selfie wurde, so heißt es, zum ersten Mal am 13. September 2002 in einem australischen Internetforum so benannt. Gute zehn Jahre und die Beschleunigung durch soziale Netzwerke brauchte es, um ein weltumspannendes und allgegenwärtiges Phänomen zu werden.

So allgegenwärtig, dass sich Unbehagen breitmacht: Von sozial gestörten Jugendlichen ist die Rede, die sich nur noch um ihr Abbild kümmern. Die dumm sind, oberflächlich, egozentrisch.

Eine „Narzissmus-Epidemie“ wird heraufbeschworen. Selfies? Nur noch ein Zeichen mehr dafür, dass es mit unserer Kultur bergab geht!

Es mag tatsächlich schwerfallen, in direkter Linie einen Zusammenhang zu erkennen zwischen Sandro Botticellis „Anbetung der Könige“ (1476), auf dem sich Botticelli selbstbewusst in Szene setzt, und der US-amerikanischen Trash-Society-Queen Kim Kardashian, die sich gerne Urlaubs-Fotobüchlein mit 1.200 digitalen Selbstporträts zusammenbastelt.

Selfies gab es jedoch schon immer, erst gemalt, dann mit dem Aufkommen der Fotografie. Ein wenig von der heutigen digitalen Spontaneität vermittelten bereits die Sofortbild-Fotos aus den Polaroid-Kameras, die seit den 1960-er Jahren einigermaßen erschwinglich wurden. Wer ein bisschen kramt in Fotoboxen oder blättert in alten Alben, der mag vielleicht auf eigene Versuche stoßen, mit der analogen Filmkamera am langen Arm verbrochen, unscharf, verwackelt.

Neu sind die vielfältigen Möglichkeiten, die Bilder zu verschönern und dann in Netzwerken wie Instagram oder Facebook zu teilen. Früher standen die heute Erwachsenen stundenlang vorm Spiegel, inspizierten überkritisch ihren Look (und ihre Pickel). Die heutige Jugend ist in ihr digitales Selbstbild verliebt – warum auch nicht? Das ist allemal besser als Selbsthass, oder? Sie albern mit Fotos rum, leben im Jetzt und Hier und teilen es ihren Freunden mit. Was sollte daran falsch sein?

Tatsächlich sieht der Zoologe ja einen direkten Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Bewusstseins und der Fähigkeit, sein eigenes Spiegelbild zu erkennen. Krähen können das überraschenderweise immer, Kleinkinder in der Regel ab einem Alter von etwa anderthalb Jahren.

Vielleicht deshalb – wegen der Mühen um Selbsterkenntnis – haben besonders Teenager ständig den Daumen auf dem Auslöse-Button ihres Smartphones. Die Pubertierchen krabbeln ja zwischen Baum und Borke herum, zwischen Gestern und Morgen, immer auf der Suche nach einem Selbst, mit dem sie die restlichen Jahrzehnte ihres Lebens verbringen können und müssen.

Warum sollten sie bei dieser schwierigen Aufgabe nicht etwas Spaß haben? Und den Spaß teilen? Ein eigenes Bild von sich selbst entwerfen. Daran feilen. Und wenn das Ergebnis nicht gefällt, den Beauty-Filter einer Bildbearbeitungs-App darüberlegen.

Natürlich gibt es Ausrutscher, Unangemessenes, im Nachhinein Peinliches. Aber solche Fälle dürften eine minimale Randgruppe der täglichen Selfie-Produktion darstellen und eigentlich zu vernachlässigen sein. Wer sich an die Oma-Regel hält („Lade nichts hoch, was du nicht auch deiner Oma zeigen würdest“), ist eigentlich immer auf der sicheren Seite.

Die restliche schiere Masse sorgt für eine ständig nachwachsende Produktion, sodass heute nichts so alt ist wie das Selfie von gestern.

Das Internet vergisst auf diese Weise eben doch.