Ethik

Der Goldene Kant 2.0

Gehen unsere Werte im heutigen Web wirklich „den Bach runter“? Können wir uns online nicht benehmen? scout-Autor Andreas Beerlage hat sich dazu Gedanken gemacht, lobt die Goldene Regel und lauscht den Ausführungen eines Netzwerk-Papstes über die digitale Welt.


Zeichnung von Menschen an einem Tisch
(c) Alfred Schüssler

Pöbeln, Sex-Flatrate und Lästereien

Das Foto eines toten Motorradfahrers. Pöbeleien gegen deutsche Stars, die Werbung für McDonald’s machen. Anonyme Leserbriefe, eine „Sex-Flatrate“, das „Camgirl des Tages“. Dazu Lästereien über „Madonnas aufgedunsenes Gesicht: Schaust du überhaupt noch in den Spiegel?!“. So ist unser Internet: dreckig, böse, respektlos. Ein schönes Beispiel dafür, dass in den neuen Medien unsere klassischen Werte langsam den Bach hinunter gehen. Und dass online andere Maßstäbe gelten als offline.

Nein, es ist kein gutes Beispiel. Denn diese Splitterstücke des schlechten Tons stammen aus der Hamburger Morgenpost (MOPO) vom 3. Juni 2013.Von welchen Werten reden wir überhaupt, wenn wir ihr Schwinden beklagen? Immer, wenn es den Deutschen um Werte geht, dann geben sie sich den Kant, denken an Thomas Mann und den lieben Gott. Doch leider verhält es sich so: Je genauer man hinschaut, umso unschärfer wird es mit den Werten. Was meinen wir zum Beispiel mit Freiheit:

Die Freiheit, in einer westlichen Demokratie zu leben? Die Freiheit der Andersdenkenden?

Die Freiheit, alles ins Netz zu stopfen, was man will, also auch Kinderpornografie?

Und wer oder was sind diese Werte? Der polnische Philosoph Joseph Maria Bochenski hat sie ganz griffig und nachvollziehbar in drei Kategorien eingeteilt:

  • Die moralischen Werte sagen uns, was wir möglichst tun sollten.
  • Die ästhetischen Werte sagen uns, wie die Dinge sein sollen.
  • Die religiösen Werte schließlich legen uns eindringlich nahe, was wir nicht tun sollen.

Doch vielleicht wäre es einfacher, nicht so oft von den großen Werten zu sprechen, die so sehr über den Dingen schweben. Der in der Schweiz geborene Theologe Hans Küng redet lieber von der „Goldenen Regel“ und die heißt „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Schon Konfuzius soll diese Goldene Regel aufgestellt haben, sie begegnet uns auch, verklausulierter, als Kants „Kategorischer Imperativ“.

Tourists, Residents und Streit ums Netz

1997 veröffentlichte der „InterAction Council“ Küngs Liste unveräußerlicher „Menschenpflichten“. Die 19 Artikel umfassende Ausweitung der Goldenen Regel hat folgende Quersumme als Ergebnis: Seid nicht böse zueinander, seid lieber offen und tolerant. Lasst den anderen ihr Eigentum, achtet jegliches Leben. Ist es so schwer, sich einmal grundsätzlich auf diese Regel zu einigen?

Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu

Goldene Regel

Die Diskussion über Werte und Manieren in den neuen Medien ist vergiftet. Aber warum gibt es so viel Dissonanzen und keinen Konsens darüber, wie man sich zum Besten seiner selbst und der anderen im Netz verhalten sollte? Der Bremer Professor Peter Kruse, oft als „Netzwerk-Papst“ bezeichnet, hat eine interessante These in den Raum gestellt. Statt Digital Natives (die Jungen) und Digital Immigrants (die Alten) teilt er die Netznutzer jetzt in die Gruppen der Digital Visitors und der Digital Residents ein, die es in allen Altersgruppen gibt. Die Besucher nutzen das Netz als Werkzeug, zur Informationssuche, zum grenzenlosen Einkaufen. Die Bewohner nutzen das Netz als sozialen Raum, der ein Teil ihrer Identität geworden ist. Die einen suchen die Expertenmeinung auf Google, die anderen folgen der Weisheit der Crowd.

Beide Gruppen können nicht wirklich miteinander reden, weil sie über grundsätzlich verschiedene Dinge sprechen, die zufällig gleich heißen: zum Beispiel „das Internet“. Die einen verurteilen und dämonisieren dann, was die anderen verteidigen und romantisieren. Wirklichen Austausch pflegen die Kontrahenten kaum. Was den Konsens erschwert.

Ein Großteil der Aufregung über die negativen Auswirkungen der neuen Medien wird über die alten Medien verbreitet. Das hat oft ein Geschmäckle. Wenn der Cheflobbyist von Springer, Christoph Keese, wie zuletzt einen langen Aufsatz über die Notwendigkeit einer Wertediskussion für das Netz formuliert, dann sind einzelne Passagen fragwürdig und widersprüchlich. Wenn er zum Beispiel schreibt, dass die „ethisch hochgezüchtete“ deutsche Presse im Internet auf Mitbewerber stoße, die sich „völlig anderen Wertesystemen verpflichtet“ fühlten. Welche genau, das führt der Mann von Springer nicht weiter aus. Springers „BILD“-Zeitung ist jedenfalls bei den Rügen-Statistiken des deutschen Presserats wegen Verstoße gegen den Pressekodex immer ganz oben mit dabei.

Viele von denen, die heute über den Werteverlust in den neuen Medien klagen, müssen wohl Stubenhocker ohne Fernseher sein, die nie im Feierabendverkehr im Auto saßen. Sind vielleicht, einmal ketzerisch gefragt, manche Dinge im analogen Leben nicht mindestens so schlimm wie im digitalen.

Gemüse, Chancen und die Zukunft

Dass es mit den Werten im Netz nicht zum Besten stehe, monieren wohl vor allem diejenigen, die ihre Monopole aufgeben müssen: die Printmedien, die unter Entzug der Publikumsaufmerksamkeit leiden. Und die Eltern, die ihren Kindern nicht mehr die Kulturtechniken vermitteln können, die für deren Zukunft wichtig sein werden. Wie gerade die Eltern mit dieser vertrackten Situation umgehen könnten, ist im Buch „Netzgemüse“ zu lesen. Die Autoren Tanja und Johnny Haeusler betreiben den Grimme-Preis-gekrönten Blog „Spreeblick“, gehören zur digitalen Elite, sind somit Residents. Aber sie haben ein paar interessante Beobachtungen gemacht, die „normalen Analog-Eltern“ vielleicht entgangen sind.

Wer online gehässig ist, ist es auch im physischen Leben

Johnny Haeusler

So fanden die Netzgärtner empathische Kommentare auf Seiten mit schlimmen Gewaltdarstellungen. Sie entdeckten in den Spalten der YouTube-Kommentare viele User, die anderen beistanden, die angepöbelt wurden. Sie entdeckten ehrenamtliches Engagement, zum Beispiel die YouTube-Lernhilfen der „Khan-Academy“. Sie beobachteten, dass ihre Kinder viel gelassener mit Rüpeleien in Sozialen Netzwerken umgingen. Und wie sie sich selbst Dinge beibrachten, weil das Netz Anstöße zur Selbsthilfe gab.

Mangelnder Respekt, schlechtes Verhalten, der Bruch mit allgemeingültigen Werten – all das sei immer schon im normalen Alltag verankert, meint Johnny Haeusler: „Man glaubt oft, dass Menschen im Netz weniger respektvoll wären als im analogen Alltag. Aber Unfreundlichkeit und Respektlosigkeit begegnen wir auf der Straße oft genug. Ausgeraubt und um Geld betrogen wurde ich bisher nur im physischen Leben.“

Auch die Frage, ob mancher im Netz ganz anders agiere als offline, beantwortet er ganz gelassen: „Bestimmt. Es gibt sicher auch bei jedem Individuum mehrere ‚Online-Verhaltensarten‘, je nachdem, wo man sich gerade befindet, was man gerade macht oder wie spät es gerade ist. Dass das aber die grundsätzlichen Werte eines Menschen verändert, bezweifle ich. Ich glaube, dass jemand, der online gehässig ist, das auch im physischen Leben ist.“ Das Internet sei noch ein gesellschaftlicher Spielplatz, sagt Johnny Haeusler. Und viele Benimmregeln würden sich erst nach und nach manifestieren.

Drohnen, Sokrates und die Pubertät

Vertrauen in die eigenen Kinder tut also not. Denn abgeschaltet wird das Internet wohl so bald nicht mehr. Die Erziehungsberechtigten haben das ­Vertrauen in den vergangenen Jahren vielleicht ein wenig verlernt. Stattdessen schweben sie, wie Drohnen, über den Kindern und wollen sie so schützen. Wenn Eltern sich mehr interessieren für das, was ihre Kinder tun, vielleicht entdecken sie ja tatsächlich, wie die Haeuslers, dass in den Prozessoren keine Dämonen hausen. Dass ein YouTube-Abend Freude macht – Macklemore versus Sex Pistols, das könnte lustig werden. Eltern und Kinder können eine Familien-Facebook-Seite einrichten und dabei viel über „Privacy“ lernen. Sie können gemeinsam die Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul „liken“, dann über Individuum und Staatsmacht sprechen.

Die Jugendlichen widersprechen ihren Eltern, (...) und tyrannisieren ihre Lehrer

Sokrates – vor 2.500 Jahren
Zeichnung von Menschen an einem Tisch, über Ihren Köpfen befinden sich Sprechblasen
(c) Alfred Schüssler

Auch der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen konstatierte in der „Süddeutschen Zeitung“ (auf Papier!), der Umgang mit den neuen Medien befinde sich noch in der „mentalen Pubertät“. Pubertät, das ist doch die Lebensphase, in der man weiß, was richtig ist, es aber nicht umsetzen kann, weil das Hirn noch nicht ausreichend verdrahtet ist. Pubertät, das ist doch die intensivste Lebensphase eines jeden Menschenkindes, das langsame Sichherausentwickeln des unabhängigen Geistes. Pubertät, das sind doch Schmerz, Freude, vor allem aber Abenteuer. Erwachsen benehmen muss man sich dann schließlich lange genug. Ein Teil der Aufgeregtheit über die bösen Nebenwirkungen der neuen Medien, und vielleicht nicht der kleinste, ist wahrscheinlich so alt wie die Zivilisation selbst. Sokrates’ Klage über die Jungen, 2.500 Jahre alt, klingt seltsam vertraut: „Die Jugend hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten. (…) Die Jugendlichen widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Die neuen Medien sind für die Jugend ein machtvolles Instrument zur Terrorisierung ihrer Umwelt, in etwa so, wie es vor 50 Jahren die „abartige“ Musik der Rolling Stones und der Beatles war.

Die Haeuslers schreiben in „Netzgemüse“ auch darüber, dass Facebook vielleicht gerade deshalb so erfolgreich ist, weil die heutigen Schülerinnen und Schüler tatsächlich kaum noch Zeit haben zum „Sozialisieren“.

Gerade im Rahmen der verkürzten Gymnasialzeit bei kaum entschlackten Lehrplänen haben Kinder und Jugendliche heute eine längere Wochenarbeitszeit, als jede Gewerkschaft es in diesem Land für seine Mitglieder tolerieren würde. Weil sie lange Schule haben, noch Hausaufgaben machen müssen, dann zum Sport gehen oder noch auf ihrem Instrument üben, chatten Mädchen und Jungen ständig und nebenbei mit ihren Freunden.

Tatsächlich fühlen sich Kinder und Jugendliche heute, das ist ein roter Faden in vielen Studien, gerade traditionellen Werten verpflichtet. Schon Sechsjährige sagen in einer gemeinsamen Umfrage von UNICEF und „Geolino“, wie wichtig Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Vertrauen und Respekt sind. Von Wertewandel oder gar Werteverlust hier also keine Spur.


Dieser Artikel ist in der scout-Ausgabe 2_2013 erschienen

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