Medienkompetenz

Wunsch versus Wirklichkeit

Medienbildung sollte für die Schulen der Hansestadt verbindlich sein. Doch wer genauer hinschaut, entdeckt nur einen Flickenteppich von Aktivitäten. Es bleibt dem Engagement einzelner Lehrer überlassen, ob Schüler diese zentrale Kulturtechnik auch im Unterricht erlernen.


Was treibt eigentlich Julia Rauheulner? Luca tippt ihren Namen, die Tasten seines Laptops klackern. Schnell findet er auf MySpace, in der Personensuchmaschine Yasni und bei Facebook Spuren des Mädchens: Julia schreibt, dass sie eine Partymaus ist, Alkohol trinkt und raucht. Auch Handynummer und Adresse sind schnell gefunden. Luca hat für Julias Offenheit kein Verständnis: „Ich fände es unangenehm, wenn alle Leute auf solche Daten in meinen Profilen zurückgreifen könnten.“

Luca und seine Mitschüler einer siebten Klasse an der Kooperativen Schule Tonndorf büffeln Datensicherheit. Julias Profile wurden von Lucas Lehrerin erfunden und im Internet platziert. Die Unterrichtseinheit ist Teil der diesjährigen Initiative „Meine Daten kriegt ihr nicht!“ des Hamburgischen Beauftragten für Datenschutz, Professor Johannes Caspar (siehe auch News, Seite 3). Bildungssenator Dietrich Wersich lobt: „Wir möchten gerne, dass diese Themen in alle Schulen kommen, damit Kinder lernen, mit Medien umzugehen.“ Abends berichtet das Regionalfernsehen von der Veranstaltung und verkündet: Datensicherheit solle „künftig an allen Hamburger Schulen“ gelehrt werden.

Das jedoch sei gegenwärtig nicht sichergestellt, sagt der Datenschutzbeauftragte. „Die Rückmeldungen von den Schulen kommen nur sporadisch. Unser Angebot ist freiwillig und wird von zu wenigen Schulen abgerufen. Für Schüler ist es ein Glücksfall, wenn sie in der Schule auf die Risiken des Internet vorbereitet werden“, sagt Johannes Caspar.

Medienkompetenz an Hamburger Schulen ist ein brisantes Thema, es krankt an der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der schulbehördliche Rahmenplan „Aufgabengebiete“ schreibt die Vermittlung zwar verbindlich vor, aber sie wird nicht überprüft und die Qualität der Umsetzung nicht ermittelt.

Ein Notebook-Projekt, bei dem die Tür zur Klasse offen bleiben muss, damit das WLAN-Netz herein kann, ist zum Heulen

Uwe Debacher

Medien sind überall

Nahezu jeder Hamburger Schüler hat heute einen Computer, Jugendliche verabreden sich fast nur noch über soziale Netzwerke. Mit ihren netzfähigen Smartphones oder i-Pods können sie gemeinsam, aber räumlich getrennt Online-Games spielen. Sie posten Handy-Filmchen auf YouTube und schnattern per Hieroglyphen im Chatroom: „YYY?“ Das heißt: „Sollen wir was trinken gehen?“ „kA!“ – „Keine Ahnung!“ Eltern und Pädagogen schauen da nicht mehr durch.

Wer lehrt dann Schüler den freudigen, aber trotzdem kritischen Umgang mit Medien? „Wenn wir Jugendliche fragen, woher sie ihr Wissen über neue Medien beziehen, dann nennt nicht mal jeder Zehnte die Schule. Sie haben sich ihr Wissen selbst beigebracht oder von Freunden gelernt“, sagt der Hamburger Medienpädagogik-Professor Rudolf Kammerl. Medienkompetenz als „eine der für die heutige Wissensgesellschaften zentralen Kulturtechniken“ würde an Hamburger Schulen nur unzureichend vermittelt. „Ob und in welchem Umfang Lehrer Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien im Unterricht fördern, ist nicht gut genug geregelt und von Schule zu Schule sehr unterschiedlich.“

Manche Lehrer haben den Anschluss ganz verpasst. Wie zum Beispiel die Grundschul-Klassenlehrerin kurz vor der Rente, die noch nie einen Text am Computer geschrieben hat. Andere wiederum glänzen durch Eigeninitiative: Wie der Kollege, der für den neuen Computerraum ausgemusterte Flachbildschirme bei einer Bank organisiert und Viertklässlern im Medienunterricht etwas über Urheberrechte beibringt. Ein Gymnasiallehrer, der den Medienentwicklungsplan an seiner Schule verantwortet, hat alle fünften Klassen mit interaktiven Tafeln, den „Whiteboards“, versorgt. Er ist vom angeregten Unterricht begeistert, aber er weiß nicht, ob auch die nachrückenden Fünftklässler solche Whiteboards bekommen, die Schule hat nur alle zwei Jahre Mittel dafür. Unter dem Strich ist die schulische Medienkompetenzförderung an der Elbe, freundlich formuliert, eine bunte Mischung.

Einer der Hamburger Lehrer, die sich intensiv mit der Vermittlung von Medienkompetenz im Unterricht beschäftigen, ist Uwe Debacher. Der Bergedorfer Informatiklehrer erkennt zwar an, dass „kaum ein anderes Bundesland technisch so gut ausgestattet ist wie Hamburg.“ Bei der alltäglichen Nutzung der modernen Geräte hake es aber oft. „Wenn ich sehe, dass in als vorbildlich geltenden Notebook-Projekten die Tür zum Klassenraum offen bleiben muss, damit das WLAN-Netz herein kann, dann ist das zum Heulen“, sagt Debacher. Er hat auch erlebt, dass Lehrer die Schreibfunktion an den neuen Whiteboards nicht aktivieren konnten: „Dann wurde ein großes Blatt Papier über die interaktive Tafel gehängt und mit dem Edding geschrieben.“

Lernstandserhebungen fehlen

Immerhin sieht der Rahmenplan der Schulbehörde moderne Medien im Unterricht vor. Insgesamt müssen neun besondere Aufgabengebiete übergreifend in allen Fächern gelehrt werden. Alle zusammen sollen zehn Prozent des Gesamtunterrichts ausmachen. Die Medienkompetenz teilt sich diese Unterrichtszeit mit wichtigen anderen Themen wie „Gesundheitsförderung“ und „Interkultureller Erziehung“. So bleiben, rein rechnerisch, für jedes Aufgabengebiet 1,1 Prozent der Gesamt-Unterrichtszeit. Jeder Lehrer, der Medienkompetenz ein bisschen in den Unterricht einbringt, erreicht auf diese Weise das Klassenziel.

Den Auftakt einer intensiven Diskussion zur Mediennutzung an den Schulen bildete Rudolf Kammerls vor einem Jahr veröffentliche „Expertise zum Stellenwert der Medienkompetenzförderung in Schulen“. Darin zeichnete der Medienpädagoge ein düsteres Bild: Medienkompetenz sei zwar verbindlich im Lehrplan verankert, was aber tatsächlich behandelt wird und in welcher Qualität, werde nicht überprüft: „Lernstandserhebungen zum Thema finden nicht statt. Werden die Bildungsziele nicht umgesetzt, drohen den Lehrern keine Konsequenzen.“ Das vorbildliche Engagement einzelner Lehrer und Schulen reiche nicht aus, um in der Breite Medienkompetenz zu vermitteln.

Mangelnde Lehrerausbildung

Ein weiteres großes Problem sieht Kammerl in der bestehenden Lehrerausbildung. In der ersten Phase der Ausbildung spiele Medienkompetenz kaum eine Rolle. Und in späteren Semestern sei Medienbildung zwar als eines von drei großen „prioritären Themen“ vorgesehen, könne aber wegen knapper Lehrkapazitäten nicht mal von einem Drittel der Studierenden belegt werden.

Darüber kann auch Uwe Grund, medienpolitischer Sprecher der Hamburger SPD, nur den Kopf schütteln: „Das ist ein Skandal!“ Grund brachte in den vergangenen Jahren mehrere Anfragen zur Medienkompetenz in die Bürgerschaft ein: „Ein weiteres zentrales Problem ist die Lehrerfortbildung. Ich habe Verständnis, wenn ältere Lehrer kurz vor der Rente keinen Anschluss mehr an die moderne Medienwelt finden. Wenn nachwachsende Lehrer ohne Auseinandersetzung mit dem Thema nachrücken, ist das nicht hinnehmbar. Sie tragen ihren dürren Wissensstand in die kommenden 30 Jahre ihrer Lehrerlaufbahn“, sagt Uwe Grund.

Auch die Lehrerfortbildung zur Medienkompetenz sei in der Hansestadt nicht verbindlich geregelt: „Die passenden Angebote des zuständigen Landesinstituts für Lehrerfortbildung (LI) zu neuen Medien werden nur von wenigen genutzt. Es kommen meistens die, die es nicht mehr nötig haben. Die Schlauen werden noch schlauer“, sagt Grund. Offenbar ist die Hemmschwelle zur Weiterbildung zu groß für diejenigen, die sich eher wenig im Thema auskennen. Der Hamburger Medienwissenschaft-Professor Hans-Dieter Kübler glaubt, dass viele zeitlich stark belastete Lehrer vor weiteren Aufgaben zurückscheuen würden: „Denen müssen wir die Vorbehalte nehmen. Das geht nicht mit Vorträgen. Wenn Lehrer lernen, Websites zu bauen, Audiofiles aufzunehmen, mit dem Computer zu gestalten, spüren sie selbst die Attraktivität der neuen Medien. Dafür bräuchten wir intensive Workshops.“

Multiplikatoren gesucht

Ingo Kriebisch, der das Referat Medienpädagogik am Landesinstitut seit kurzem leitet, ist sich der großen Bedeutung einer verbindlichen Förderung der Medienpädagogik bewusst: Er will den „eingeschlagenen Weg, durch Fortbildung von Multiplikatoren die Medienkompetenzförderung in die Breite zu tragen“, weiter ausbauen: „ Für diese Multiplikatoren bieten wir Veranstaltungsreihen, die sowohl den unterschiedlichen Bedingungen der Schulen als auch einer neuen Lehr- und Lernkultur gerecht werden sollen.“ Das LI unternehme verstärkte Anstrengungen, um neue Konzepte zu entwickeln, die den Einsatz der neuen Medien mit dem Fachunterricht verzahnen.

Vielen Lehrern müssen wir Vorbehalte nehmen. Das geht nicht mit Vorträgen

Hans-Dieter Kübler

Medien als Schulrealität

Aktuelle Aspekte der Mediennutzung vermitteln heute eher Vereine und Initiativen aus der „freien Szene“ der Medienpädagogik. Andreas Hedrich vom „jaf – Verein für medienpädagogische Praxis Hamburg e.V.“ kennt die Nöte der Lehrer: „Wir helfen ihnen, Medien als Bestandteil des Alltags und der Schulrealität wahrzunehmen. Wir bieten Projekte an, mit denen die Lehrer die Mediennutzung in allen Facetten in den pädagogischen Alltag der Schule einbringen können.“ Ein gutes Beispiel ist das aktuelle „MobileMovie“-Projekt: Kunstlehrer von zehn Schulen entwickeln mit ihren Schülern Handy-Filme zum Thema Mobilität, die später auf den Infoscreens des HVV gezeigt werden. MobileMovie ist eine Idee von Klaus Küchmeister, Kunsterzieher am Gymnasium Meiendorf: „Fast alle Schüler besitzen heute Handys, und wie sie die kostenlose Schnitt-Software nutzen müssen, lernen die Jugendlichen schnell.“ Mitarbeiter des jaf begleiten die Schulen technisch und inhaltlich bei der Medienarbeit. Die Mittel warben Hedrich und Küchmeister für das Projekt beim Hamburger Verkehrsverbund und der MA HSH ein. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben die beiden inzwischen weitere Partner auch im universitären Bereich gefunden.

Bei der Schulbehörde sieht man die ganze Diskussion um die Medienbildung in Hamburg etwas gelassener. Der zuständige Referatsleiter für Medien, Oberschulrat Arthur Gottwald, sagt: „Es wird im Bereich Medienerziehung in Hamburg viel mehr gemacht, als man glaubt. Es gibt eine Fülle von tollen Beispielen.“ Manfred Schulz, im Referat zuständig für „digitale Lernumgebungen“, unterstreicht: „Die Hamburger Bildungspläne enthalten für alle Fächer Hinweise zur spezifischen Mediennutzung. Und auch verbindliche Anforderungen an die Entwicklung von Medienkompetenz.“ Schulz bezweifelt aber grundsätzlich, dass sich Medienkompetenz „von oben eintrichtern“ lässt: „Wir können nicht einerseits freiere Lehrformen unterstützen und dann wieder frontal Wissen vermitteln wollen.“

Anregungen, wie man es in Sachen Medienkompetenz in Zukunft an Hamburger Schulen besser machen könnte, finden sich in der Expertise von Rudolf Kammerl: Er fordert, dass bei den Schulinspektionen dieses Thema stärker berücksichtigt wird. Und größere Anreize für diejenigen, die sich an den Schulen um die Integration von Computern und Medien kümmern: „Zum Beispiel durch karrierewirksame Funktionsstellen.“ Regelmäßige Medienkompetenz-Erhebungen (ähnlich wie die zur Lesekompetenz) seien ebenfalls notwendig.

Wenig Hoffnung hat Kammerl, wenn es um die immer wieder auftauchende Forderung nach einem eigenen Fach „Medienbildung“ geht. Das sei „einfach nicht gewünscht“. Trotzdem kursiert seit Anfang Januar ein hochkarätig unterschriebenes Memorandum, das wieder in genau diese Kerbe schlägt: „Wenn der Umgang mit Medien und informationsverarbeitender Technik eine zentrale Kulturtechnik ist, dann muss sie in einem verbindlichen Fach oder Lernbereich verankert werden!“


Dieser Text ist in der scout-Ausgabe 1_2011 erschienen.