scout-Interview mit Alexander Drechsel
"Wenn ich keine sauberen Informationen habe, dann stellt das unser Gesellschaftsmodell in Frage."
scout: Herr Drechsel, Tide ist ein wichtiger Förderer der Medienpädagogik in Hamburg. Warum ist das Thema Desinformation für Eltern und Kinder wichtig?
Alexander Drechsel: Weil Informationen an sich für unsere Gesellschaft wichtig sind. Letztendlich fußt Demokratie ja darauf, dass ich einen Austausch an Argumenten habe. Diese Argumente bekomme ich auf Basis von Informationen. Wenn ich aber keine sauberen Informationen habe, dann stellt das unser Gesellschaftsmodell in Frage.
Desinformation ist deshalb ein wichtiges Thema für Tide. Das Problem fängt oft im ganz Kleinen an. Also, wenn zum Beispiel Lügen verbreiten werden über Klassenkamerad*innen, dann ist das eine Art der Desinformation. Da muss dann pädagogisch auch angesetzt werden. Denn gerade in diesen persönlichen Bereichen wird gelernt, was sich im Großen entwickeln kann. Deshalb vermittelt Tide Kindern, Jugendlichen und Eltern mit dem Peer-Angebot MedienScouts und auch mit ElternMedienLotsen Kompetenzen, wie sie mit Desinformationen richtig umgehen.
scout: Tide ist Hamburgs Bürgersender und Ausbildungskanal. Gibt es bei Tide Fernsehen und Tide Radio Probleme mit Desinformation?
Alexander Drechsel: Hier gilt das Gleiche wie in der Medienpädagogik. Das heißt, ich muss mir sehr bewusst über die rechtlichen Rahmenbedingungen sein, innerhalb derer ich Programm machen kann, sprich üble Nachrede muss vermieden werden. Insbesondere im Fernseh- und Radioprogrammen. Aber darüber hinaus gilt es auch, die etwas größeren oder die ganz großen Desinformationen zu filtern, die uns tagtäglich über die Sozialen Medien erreichen. Dafür sensibilisieren wir unsere Bürgerproduzent*innen.
scout: Wie gehen Sie dabei vor?
Alexander Drechsel: Wir monitoren unsere Sendungen im Fernsehen und im Hörfunk. Daneben bieten wir über die Tide Akademie Kurse an, damit sich die Bürgerproduzent*innen fort- und weiterbilden können. Es geht damit los, dass jede/r journalistische Grundlagen erwerben sollte, um journalistisches Arbeiten zu verstehen.
scout: Was machen Sie, wenn Ihnen mögliche Desinformationen auffallen?
Alexander Drechsel: Wir gehen auf die Personen zu und suchen im Gespräch nach Lösungen. Und wir bieten über die Tide-Akademie-Kurse an, beispielsweise zu Recherche oder zur Frage „Wie führe ich ein Interview?“. Da bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, wo wir eingreifen können. Aber an allererster Stelle steht das Gespräch. Denn wir sind kein Sender, der von oben nach unten funktioniert, sondern wir kommunizieren auf Augenhöhe. Das heißt, die Leute sollen auch verstehen, weshalb die Unterscheidung zwischen Information und Desinformation so wichtig ist.
scout: Welche Rolle spielt das Thema Desinformation bei Tide Online?
Alexander Drechsel: Online begegnen uns Desinformationen hauptsächlich in den Sozialen Medien, in Form übler Nachrede, Beschimpfung oder Bedrohung. Da müssen wir eingreifen, insbesondere, wenn Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Manchmal werden auch Falschbehauptungen aufgestellt, wie „den menschengemachten Klimawandel gibt es gar nicht, wir hatten schon immer Warm- und Kaltzeiten“. Dafür werden dann teilweise hanebüchene Argumente ins Feld geführt.
scout: Können Sie mal an einem Beispiel erläutern, wie falsche Informationen gestreut oder Informationen absichtlich verfälscht werden?
Alexander Drechsel: Es gibt absichtlich gestreute Falschinformationen und jene, die nicht sauber recherchiert wurden, weil zum Beispiel das Zwei-Quellen-Prinzip nicht beachtet wurde. Da arbeiten wir dann entsprechend nach und stellen das für die Zukunft ab. Das ist nach unserem Kenntnisstand bislang immer gelungen.
scout: Sind Sie selbst schon einmal - beruflich oder privat - von einer Desinformation geleimt worden?
Alexander Drechsel: Selbstverständlich, auch mir passiert das, dass ich ewas sehe und denke „Das kann ja nicht wahr sein!“. Dann setzt dieser Reflex im Zeigefinger ein, das zu teilen und weiterzuleiten. Auch bei mir als ehemaligem Nachrichtenredakteur. Grundsätzlich ist niemand vor Fehlern gefeit. Letztendlich sollte man aus jeder falsch verbreiteten Information die Lehre ziehen, beim nächsten Mal vielleicht doch noch mal einen Moment länger nachzudenken.
Tide und andere Bürgersender versuchen letztlich, eine „redaktionelle Gesellschaft“ herzustellen. Professor Pörksen von der Universität Tübingen hat das so ausgedrückt: „Letztlich muss jede/jeder in der Lage sein, journalistische Kriterien anzuwenden." Diese journalistischen Kriterien - Skepsis, gegenprüfen und bei Bedarf tiefere Recherche - gehören in der “redaktionellen Gesellschaft“ zur Allgemeinbildung. Und genau das ist der Ansatz, den Tide in der Medienpädagogik und in Tide-Sendungen verfolgt. Menschen saugen diese journalistischen Arbeitsweisen tatsächlich ein Stück weit auf und wenden sie in ihrem Alltag an.
scout: Herr Drechsel, vielen Dank für das Gespräch.