Kurs halten im Daten-Meer
Wenn Eltern nicht mehr durchschauen, was ihre Kinder in Chatrooms oder Sozialen Netzwerken treiben, dann werden Eltern-Medien-Lotsen ans Steuer gerufen. Sie helfen sicheren Kurs zu halten im World Wide Web.
Hätte ihr 14-jähriger Sohn nicht vor einiger Zeit lautstark protestiert, würde die Elternvertreterin Thale Hespos-Dude jetzt keine Stühle durch die Aula der Hamburger Stadtteilschule Kirchdorf schleppen. „Er sagte: ,Du weißt doch gar nicht, warum mir der Computer so wichtig ist.‘ Und er hatte natürlich recht“, erzählt die Mutter. In einer halben Stunde wird der Elternabend der fünften und sechsten Klassen beginnen – zum Thema „Unsere Kinder im Internet“.
Die Referentin kommt herein. Franziska Günther, 42 Jahre alt, ist eine von 75 Medien-Lotsen in Hamburg und Schleswig-Holstein. Ihre Aufgabe: Eltern durch die digitale Welt ihrer Kinder zu navigieren. Die Berufsschullehrerin, die berufsbegleitend den Masterstudiengang „Medien und Bildung“ absolviert hat, trägt keine Elbsegler-Mütze. Sie hat auch keinen Kompass dabei. Stattdessen stöpselt sie jetzt einen Laptop an den Beamer.
„Wenn wir den Anschluss nicht ganz verlieren wollen, müssen wir eben selbst zurück auf die Schulbank“, sagt die Elternvertreterin zur Lotsin. Mit ihrem Unbehagen ist sie nicht allein. Eltern heute gehören zu einer Generation, die ihr technisches Wissen nicht mehr an die Kinder weitergeben kann. Ihre Kinder sind „Digital Natives“, die „Ureinwohner“ der vernetzten Welt. Sie sind den Erwachsenen nicht nur oft Lichtjahre voraus, sondern verhalten sich im World Wide Web auch völlig anders. Kinder zwischen sieben und 17 Jahren chatten oder tummeln sich in sozialen Netzwerken – doppelt so oft wie die Gesamtbevölkerung. Erwachsene kaufen derweil lieber Bücher auf Amazon oder lesen Nachrichten auf Spiegel Online.
Der Beamer strahlt das Schlagwort „Web 2.0“ an die Wand. Franziska Günther schickt einen fragenden Blick in den Raum: „Was fasziniert Ihre Kinder so daran?“ Schweigen. „Es ist die Möglichkeit, mitzumachen, mitzugestalten. Hier können sie aktiv werden. Im Internet, das Sie meistens nutzen, dem Web 1.0, findet die Interaktion kaum statt“, fährt die Lotsin fort.
Einige Eltern murren: Das Mitmachnetz könne das echte Leben nicht ersetzen. Franziska Günther sieht das gelassener: Das Internet nehme nicht den ersten Platz im Leben der Jugendlichen ein. Das sei eine typische Fehleinschätzung: „Umfragen haben gezeigt, dass ,Freunde treffen‘ immer noch auf Platz eins der Lieblingsbeschäftigungen liegt“, sagt die Lotsin und präsentiert mit einem Klick Ergebnisse der JIM-Studie. Für die werden jedes Jahr 1.000 Jugendliche bundesweit telefonisch nach ihrem Medienverhalten befragt.
Pubertieren im Chatroom
Chatrooms sind laut dieser Studie ein großes Thema für Schüler der fünften und sechsten Klassen, sagt Franziska Günther. „Meine Schwester ist elf und oft im Chat“, bestätigt ein Jugendlicher, der neben seiner Mutter sitzt, „wir lassen sie, kontrollieren aber manchmal den Verlauf.“ Gut so, sagt die Lotsin und erklärt, wie Chatten sicherer wird: Nie unter Klarnamen auftreten. Nie mit Fremden sprechen. Auf keinen Fall Adressen oder Telefonnummern herausgeben. Die Kinder müssen ein gesundes Misstrauen entwickeln.
Elternvertreterin Hespos-Dude ist nicht klar, wozu das Schwatzen im Internet gut sein soll. „Die Kinder können sich doch auch so unterhalten“, wirft sie ein. Die Lotsin lächelt, sie hört den Einwand nicht zum ersten Mal. „Im Chat agieren die Teilnehmer anonym. Sie probieren unter einem Fantasienamen – zum Beispiel als Angel 13 – neue Rollen und Identitäten aus: ,Wer bin ich? Wer könnte ich noch sein?’ Schüchterne Schüler verhalten sich auf einmal selbstbewusst“, erklärt Günther. Für Jugendliche zu Beginn der Pubertät sei das eine wichtige Erfahrung.
Total verrückt auf Facebook
Die nächste digitale Herausforderung ist nur einen Mausklick entfernt. „Soziale Netzwerke: Facebook und Co.“ leuchtet nun auf der Leinwand. „Ab 13 oder 14 Jahren finden Schüler das Chatten wieder dröge, die Aktivität lässt deutlich nach“, sagt die Lotsin. Ramazan Cinar, ein türkischer Vater, stimmt zu: „Mein Sohn ist total verrückt auf Facebook. Er will mich anmelden. Ich frage ihn: ,Was bringt mir das?‘ Er sagt: ,Da kannst du deine alten Freunde finden.’“
Das funktioniere jedoch nur, weil Mitglieder in den Sozialen Netzwerken unter ihrem echten Namen auftreten, sagt Franziska Günther: „Nur deshalb kann ich gefunden werden. Das wollen die Jugendlichen auch. Sie müssen, wenn sie jemand treffen, gar keine Handynummern mehr hergeben. Sie sagen nur: ,Guck auf Facebook!‘“ Viele Jugendliche gingen dabei zu naiv vor: „Peinliche Bilder, die ich heute einstelle, können später von Personalchefs angeschaut werden. Alles, was Jugendliche ins Netz geben, hinterlässt eine ,digitale Schleimspur‘. Die hält sich vielleicht ein Leben lang.“
Die Kontrolle über die eigenen Daten ist wichtig. Bei vielen Jugendlichen ist die Erkenntnis nicht angekommen: „Nur die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen benutzt die Privateinstellung der Sozialen Netzwerke“, sagt die Lotsin. Ramazan Cinar gähnt leise. Auch die anderen Eltern gucken müder als zu Beginn. Franziska Günther hat die schwindende Konzentration bemerkt: „Gibt es noch Fragen?“
Ramazan Cinar nickt: „Kann ich im Computer meines Sohnes einen Zeitpunkt zum Abschalten programmieren?“ „Natürlich!“, ertönt eine tiefe Stimme. Die beiden Väter versinken im Fachgespräch. Eine gute Frage, findet die Lotsin: Nur jeder zweite Schüler zwischen sieben und 17 Jahren bekommt laut einer Umfrage des Computer-Branchenverbands BITKOM zeitliche Vorgaben für die Computernutzung. Jeder Sechste kann sich völlig frei im Netz bewegen, weil sich die Eltern gar nicht einmischen. Franziska Günther klappt den Laptop zu und schaltet den Beamer aus. Die Eltern haben genug nachgesessen.
Für Elternvertreterin Hespos-Dude war der Abend familiär höchst erfolgreich. Eine Woche später erzählt sie, nun ausgiebig mit ihrem Sohn über das Internet gesprochen zu haben: „Wir haben jetzt einen viel besseren Kontakt, und er erzählt mir viel offener, was ihn beim Online-Spielen so begeistert.“
Dieser Artikel ist in der scout-Ausgabe 1_2011 erschienen.