Ein großer Aufbruch?
Was hat sich in Kitas in den letzten zehn Jahren bei der Medienpädagogik getan? Sind Digitalisierung und kompetenter Umgang mit Medien dort selbstverständlicher geworden? Die gute Nachricht: Es geht voran. Doch noch immer gibt es viele Vorbehalte – auch bei jungen Erzieher*innen.
„Drück mal da drauf, guck, dann machst du ein Foto. Und so kannst du es dir anschauen.“ Alex Renje, 36, stellvertretender Kita-Leiter in der PAS (für „Praxisausbildungsstätte“) Gerritstraße in Hamburg-Altona, kniet neben den Kindern, gibt eine kurze und verständliche Einweisung ins Gerät. Und sagt auch, wie man sich damit verhält: „Wenn du einen Menschen fotografierst, frag ihn vorher, ob du das darfst, ja?“ Kurzes Nicken, schon gehts los: Die Kinder aus seiner Gruppe sausen über das Außengelände. Wer wissen will, was nun mit Kind und Digitalkamera passiert, muss hinterher: zur Baustelle, die ist gerade das große Thema. Klick, klick, wird das übrig gebliebene Lehm-Fundament einer abgerissenen Hütte festgehalten und auf dem kleinen Bildschirm bestaunt. Ab ins Gebüsch, kurze „Bodenstudie“, danach werden Fotos gemacht beim Schaukeln. Huch, nur ein verschwommener Farbbrei auf dem Display!
Das, was da gerade so große Freude macht, ist im Fachjargon ein „medienpädagogisches Angebot“. Die Kinder entdecken, begleitet durch Erzieher Renje, das Medium Digitalkamera. Neben solchen Angeboten gibt es auch ausführlich vorbereitete mehrwöchige Projekte. Etwa ein Fotoprojekt samt Zeitung, dazu ein Ausflug ins Fotolabor in der Umgebung. Einmal wurden hier aus den genialen Fotomotiven der Kinder schon Postkarten, die Eltern kaufen konnten. „Wo genau uns die Reise hinbringt bei einem Projekt, wissen wir vorher nicht. Kinder denken nicht zielorientiert, der Prozess steht im Vordergrund. Wir geben Impulse, die Kinder lenken uns.“ Klingt spannend. Und sinnvoll. Und auch gar nicht ungesund. Denn wenn von „Medienerziehung in Kitas“ die Rede ist, kriegen viele nach wie vor einen Schreck: Da ist ein inneres „Wie bitte?“, das reflexartig fragt, ob das denn gut sein kann für die Kinder, das Gehirn, die Menschheit, die Welt: „Wenn schon die ganz Kleinen … womöglich mit Handy … lieber nicht …“ Vielleicht ist es ein vorauseilendes Schuldgefühl, das uns Erwachsene so zweifeln lässt: Wenn wir schon die Bullerbü-Welt zerstört haben mit unseren Handys, Autos, Beton und Fernsehen oder wenn die Oma schon – statt im Sessel zu stricken – mit dem Smart-phone über WhatsApp anruft, dann, ja dann soll doch bitte im Kindergarten die Welt in Ordnung sein! Natürlich, ursprünglich. Matsch und Miteinander. Klettern, malen, singen. „Bewahrpädagogik“ nennt Angélique Zboralski, Lehrerin für Medienpädagogik an der FSP2, Fachschule für Sozialpädagogik in Hamburg-Altona (zu der die PAS-Kita gehört), diesen Reflex. Und ihr begegnen diese – gut gemeinten – Vorbehalte immer noch häufig: Bei ihren Schüler*innen, sogar den ganz jungen, und in deren Erzählungen aus der Kita-Praxis. Die Vorbehalte sind verbreitet, sogar im aktuellen „Familienbericht der Bundesregierung“ tauchen sie auf: „Wenngleich mittlerweile auch eine Reihe von Kindertagesstätten das Thema Medienerziehung aufgreift, stehen dem doch oftmals die Erzieher*innen skeptisch gegenüber, weil sie andere Erziehungsbereiche für relevanter halten und vielfach auch die Eltern ablehnend reagieren, wenn sich ihre Kinder in der Kita mit Medien auseinandersetzen sollen.“
Wir geben nur Impulse, die Kinder lenken uns.
Oft reagieren Erzieher*innen und Eltern noch ablehnend.
„Nach wie vor gibt es viel Unwissenheit, was sich hinter dem Begriff eigentlich verbirgt“, sagt Zboralski: „Beim Wort Medienerziehung denken viele erst mal nur an Bildschirmmedien. Und es schwingt die Vermutung mit, dass es ein Hin-Erziehen zum Medienkonsum sein soll – das ist aber gar nicht der Fall.“ Genauso ging es auch Sarah Schultz, 23. Sie ist gerade mit ihrer Ausbildung an der Beruflichen Schule Hamburg-Harburg zur Sozialpädagogischen Assistentin (SPA) fertig und sagt: „Ich dachte bei Medienpädagogik an Kinder, denen ein Smartphone oder Tablet in die Hand gedrückt wird, damit die Erwachsenen ihre Ruhe haben. Und da war mein Impuls: Nein! Als ich in der Ausbildung begriffen habe, dass Kinder nicht Konsumenten, sondern selbst Gestalter werden und lernen sollen, aufgeklärt mit Medien umzugehen, hat sich meine Einstellung umgekehrt.“
„Medien sind längst Bestandteil der Lebenswirklichkeit von Kindern, wenn sie in die Kita kommen, selbst im Krippenbereich“, sagt Zboralski, „sei es das Radio im Auto, das Handy der Eltern.“ Eben keine Bullerbü-Welt. Alex Renje und Sarah Schultz können das nur bestätigen. Sie erzählen von Einjährigen, die einen Bauklotz ans Ohr halten, um das Telefonieren zu imitieren. Auch Jana Westermann, 35, die gerade die berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieherin macht, begegnet Kindern, die von Peppa Wutz erzählen und Paw-Patrol-Spielzeug mitbringen: „Das sind ihre Medienhelden.“ Aber warum bleibt dieses ungute Bauchgefühl, obwohl fast alle Eltern und Erzieher*innen selbst viel Bildschirmzeit verbringen? Renje überlegt. „Ich habe als Kind zu viel Zeit vor dem Fernseher verbracht. Das wurde damals kaum reflektiert.“ Auch bei Schultz war es ähnlich. Sie ist jünger und bei ihr kam schon das Handy samt Internet dazu. „Wir surften überall im Netz rum. Die Erwachsenen hatten keine Ahnung – ich habe zu früh Sachen gesehen, die nicht gut waren.“ Es ist also auch die eigene Erfahrung, die vor allem Jüngere zweifeln lässt: Erwachsene haben zu viel Medien zugelassen. „Trotzdem dürfen wir uns nicht unreflektiert in die reine Schutzhaltung flüchten“, sagt Zboralski, „genau deshalb ist frühe Medienerziehung wichtig. Dazu gehört die Selbstreflexion. Die Erkundung der eigenen Medienbiografie ist deshalb Bestandteil unserer schulischen Ausbildung.“ Aber wo genau steht die angewandte Medienpädagogik heute – fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Hamburger Bildungsempfehlungen, die, wie Zboralski betont, „in jedem Lernfeld mindestens ein Beispiel für Medienprojekte nennen“?
Gibt es den großen Aufbruch in der Realität der Kinder tatsächlich? Renje, der seine Ausbildung 2017 abgeschlossen hat, überlegt: „Ich hatte wirklich wenig Pflichtstunden in Medienpädagogik. Da kommt man über ein Basiswissen eigentlich nicht hinaus.“ Und Sarah Schultz erzählt: „Medienpädagogik war bei uns ein Lernfeld, kein eigenes Fach. Zum Glück hatten wir einen engagierten Lehrer. Aber Praxisbeispiele haben wir nicht an die Hand bekommen. Am Ende hatten wir dafür nur eine Liste mit Apps. Also genau so, wie es doch eigentlich nicht sein soll: die Kinder als Konsumenten. Das fand ich enttäuschend.“ Und auch das bestätigt der aktuelle Familienbericht im gleichen Absatz: „Zudem hat Medienkompetenz in der Ausbildung der Erzieher*innen allenfalls einen sehr geringen Stellenwert.“ Doch das stimme zunehmend nicht mehr, sagt Zboralski: „Die dreijährige Erzieher*innen-Ausbildung hat in der Regel 2.880 Schulstunden über drei Jahre.“ Wenn mehr Medienpädagogik in der Ausbildung gefordert wird, heißt das automatisch ein Weniger in anderen Bereichen: „Das ist ein Kampf um Stunden. Aber mittlerweile haben wir verschiedene Module: Regelhaft sind 80 Stunden für alle Schüler*innen. Dazu kann individuell das Vertiefungsmodul mit 80 Stunden gewählt werden. Und, ganz neu: das Profil Medienpädagogik mit insgesamt 160 Stunden über zwei Semester. Da geht es dann wirklich in die Tiefe.“ So können maximal 320 von 2.880 Schulstunden der Medienpädagogik gewidmet werden. Jana Westermann ist eine der Schüler*innen, die sich für das Vertiefungsmodul entschieden haben. Weil ihre Fragen „in den Pflichtstunden nicht beantwortet werden konnten“. Und welche waren das? „Wie genau mache ich das in der Kita? Welche Ideen mit welchen Medien gibt es schon? Was für Projekte mache ich genau?“ Sie will praktische Beispiele kennenlernen, mit denen sie auch ihre zukünftige Kita-Leitung und Eltern überzeugen kann. Wie etwa das Fotoprojekt samt Postkarten in Renjes Kita. Oder: die eigene Stimme aufnehmen oder Vogelgezwitscher. „Es müssen gar nicht riesige Projekte sein. Kleine, aktive Angebote und Erfahrungen im Kita-Alltag reichen völlig“, sagt Zboralski. Der Aufbruch ist also in der Ausbildung längst Wirklichkeit. Auch das Equipment sei da, sagt Zbobralski. In den Kitas, sagt Renje, sei er mehr „im Prozess, ich brauche hier keine Tablets, die dann doch niemand benutzt“. Er freue sich auf die Generation von Erzieher*innen, die mit mehr medienpädagogischem Wissen und konkreten Ideen kommen werden. „Trotzdem möchte ich, dass es reflektiert bleibt. Auf dem Spielplatz haben wir neulich eine Kita erlebt, deren Erzieher*innen parallel mit den Eltern über Video-Call kommunizierten, wohl um zu zeigen: Den Kindern geht es gut. Sie haben Spaß. Das ist eine Tendenz, die ich mir nicht wünsche.“ Hat die Corona-Pandemie für einen Push gesorgt – wie etwa in den Schulen? Angélique Zboralski überlegt. „Es gab Kitas, die digitale Morgenkreise gemacht haben, aber hier gilt wie an den Schulen: Woanders ist man weiter.“ Alex Renje kann keinen Push erkennen und sein Gesicht wird ernst: „Eher im Gegenteil. Viele Erzieher und SPA-Praktikanten konnten nicht in die Praxis, also die Kita. Die Umsetzung der Corona-Auflagen – Hygiene, Kohorten, Notbetrieb – alles das hat die Zeit aufgebraucht, die sonst zum Planen für Projekte oder neue Ideen da ist. Wir haben tatsächlich seit einem guten Jahr kein einziges Projekt machen können.“ Bildung, auch die medienpädagogische, ist also zu kurz gekommen. Vom Spielturm hört man es plötzlich laut rufen: „Darf ich dich fotografieren?“ Renje lächelt: „Ja!" Klick! Es braucht also nicht nur werdende Erzieher*innen, die mit konkreten Ideen ihre Kita-Leitungen überzeugen, sondern auch fortgebildete SPAs und Erzieher*innen, die in ihre Einrichtungen mit neuem Wissen zurückkommen. Die mit ihrer medienpädagogischen Kompetenz den Eltern und Kolleg*innen die Unsicherheit nehmen. Und vielleicht braucht es auch eine Portion Leichtigkeit: Es muss nicht gleich ein preisgekröntes Medien-Projekt sein – Kinder staunen und lernen auch mit der Digi-Cam auf dem eigenen Außengelände.
Ich habe praktische Beispiele gesucht!
Mein erster Impuls: Medien – nein!