Praxistag Casting-Show

Der Depp gewinnt nie

An einer Castingshow nehmen nicht nur Talente teil, am Ende gewinnt nie der Daniel Küblböck. Und Dieter Bohlen tut sowieso nur so als ob! Zu Besuch beim Praxistag im Offenen Kanal in Kiel: Wenn Schüler zu Casting-Kandidaten werden.


Abbildung eines Monitors auf dem drei Jungs zu sehen sind
Foto: Felix Amsel

Die erste Wahrheit zu Beginn: Der wirkliche Star ist immer die Jury. Lisa schaut gelangweilt auf die Bühne: „Das einzig Gute an deinem Auftritt waren die Scheinwerfer.“ Das Publikum buht, Lisa legt nach. „Das ist Scheiße, das ist meine Meinung.“ Kevin lächelt. „Naja, auch wenn nicht alles geklappt hat, ihr wart mit dem Herzen dabei, ich geb’ euch ein Ja“, sagt er, sichtlich gerührt. Jubel. „Nein, das reicht einfach nicht“, mischt sich Marvin ein, „so was will doch niemand sehen. Klares Nein.“ Entsetzen im Publikum, die Kandidaten auf der kleinen Bühne lassen die Köpfe hängen. „Cut, noch einmal von vorne“, ruft da plötzlich jemand aus der Technik, „die Kamera war nicht richtig eingestellt.“ Alles auf Anfang. Klappe, die zweite. „Willkommen beim Mega-Talent, der erfolgreichsten Show Deutschlands!“

Die Medienklasse der siebten Stufe der Regionalschule Altenholz stellt an diesem Tag beim Offenen Kanal (OK) in Kiel eine Casting-Show nach. Das Studio ist nur eine Miniatur-Ausgabe derer bei RTL oder ProSieben, aber die Kulisse stimmt. Drei Kameras zielen auf Jury und Kandidaten. Rote und weiße Sterne dekorieren die schwarzen Vorhänge im Hintergrund, auf Flatscreens glitzert das Logo der Show „Das Mega-Talent“.

Es ist warm, die Schüler im Publikum schwitzen und tuscheln: „Das ist wegen der Scheinwerfer. In echten Fernsehstudios ist es auch immer so heiß.“ Etliche Minuten zuvor, hinter den Kulissen: „Habt ihr eure Profile fertig?“, fragt Henning Fietze vom OK. Er sitzt vor der Aufzeichnung mit der Jury in einem Besprechungszimmer und plant mit den drei Schülern ihren Auftritt. „Ich bin das Model, der ausgleichende Typ“, Marvin zückt seinen Zettel, schaut kurz drauf, „ich habe sogar schon mit Paris Hilton gearbeitet.“ Die Rollen sind klar verteilt, wurden – genau wie in richtigen Castingshows – von der Redaktion festgelegt. „Eigentlich wollte ich ja lieber der Fiese sein“, erzählt Marvin und lacht, „aber jetzt macht Lisa die fiesen Sprüche und Kevin ist total emotional, der weint auch mal.“ Oder anders gesagt: Marvin ist Sylvie van der Vaart, Kevin mimt Bruce Darnell, und Lisa gibt den Bohlen. Mega- spielt Super-Talent.

Kinder stehen zusammen, zwei umarmen sich
Foto: Felix Amsel

Der passende Stempel

Dass bei so einer Show sowohl Jury als auch Kandidaten in bestimmte Rollen gedrängt werden, haben die Schüler zuvor im Unterricht gelernt. Im Wahlpflichtkurs „Medien“ haben die Siebtklässler die Unterrichtshandreichung „Schein & Sein“ der MA HSH beackert und sind nun Experten für Reality-Formate. „Da gab es schon so einige Aha-Momente. Alle Schüler schauen diese Sendungen, sie wissen aber oft nicht, was echt ist und was nicht“, erzählt die Lehrerin Nicole Wommelsdorf. Sie hat mit ihrer Klasse über Formate wie „Mitten im Leben“ gesprochen, ihnen die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion im Fernsehen erklärt.

Der Praxistag heute ist das große Finale der Unterrichtsreihe, quasi die Live-Show, auf die sich alle wochenlang vorbereitet haben. „Viele Klassen schaffen es leider gar nicht, diesen Tag umzusetzen“, sagt Henning Fietze, der auch Autor der Handreichung ist. Das sei zwar schade, wichtig seien ihm aber alle Teile der Reihe. Nicole Wommelsdorf hat auch nicht alles behandelt, auf den Praxistag beim OK wollte sie aber auf keinen Fall verzichten. „Das ist doch das Highlight. Alle sind dabei, keiner sitzt daneben.“ Die 16 Schüler der Klasse haben sich während der letzten Unterrichtsstunde in Gruppen aufgeteilt: Drei Jury-Mitglieder, zwei Moderatorinnen, fünf Schüler für die Technik, sechs weitere spielen die Kandidaten.

Auftritt Sharin, 13 Jahre alt und kein graues Mäuschen: Sie trägt einen buntkarierten Rock mit Strümpfen Marke Pippi Langstrumpf in rot, grün und orange. Die Musik dröhnt, Sharin hüpft. Ausdruckstanz ist ihr Talent heute, und noch dazu kann sie, während sie hüpft, Seifenblasen durch das OK-Studio pusten. Ein Mega-Talent? Das wird sich noch zeigen. Die Jury schweigt, das Publikum tobt.

Wahrheit Nummer zwei: jedem Kandidaten seinen Stempel.

Sharin hat sich vor der Sendung sehr genau überlegt, wen und was sie darstellen will. „In meiner Rolle liebe ich Tiere, bin sehr hilfsbereit und gehe auf eine Waldorfschule. Dort habe ich auch den Ausdruckstanz gelernt“, erklärt das Mädchen grinsend, „ich wirke auf Fremde also ziemlich verrückt.“ Aber das müsse ja so sein, mindestens einen Kandidat müssten die Zuschauer schließlich für seltsam halten: „Es wird schon vor der Show entschieden, wer der Depp ist, und dann wird das durch Stilmittel wie Kamera oder Musik unterstützt.“

Längst hat Sharin die Praktiken der Fernsehmacher durchschaut – und spielt sie nach: Sie ist der Daniel Küblböck des Offenen Kanals.

Doch die Schüler haben noch viel mehr gelernt. Ja, manches war ihnen schon vor der Unterrichtsreihe bewusst. Gerade bei den Scripted-Reality-Shows wie „X-Diaries“ oder „Die Schulermittler“ war einigen klar, dass die Geschichten nicht echt sein können. Die seien ja schließlich viel zu schlecht geschauspielert, sagen sie. Dass aber auch Sendungen wie „Das Supertalent“ oder „DSDS“ viel mehr Schein als Sein bieten, hat einige überrascht. Jetzt aber durchschauen sie alle die Tricks und Stilmittel der Fernsehmacher. Sie wissen, dass Musik und Kameraführung gezielt ausgewählt werden, um ganz bestimmte Emotionen zu erzeugen. Und was sie noch wissen: Am Ende gewinnt (selten) der Depp.

Das große Finale. Stille. Pause. Lange Sätze, die nichts sagen, nur Fragen stellen, auch das ist ein Stilmittel – um die Spannung zu steigern. Wer ist das Mega-Talent? Wer darf Ruhm und Ehre dieses Unterrichtstages mit nach Hause nehmen? Wer hat gewonnen? Wer hat die Jury und das Publikum überzeugt? Sharin – ist es nicht. Das Publikum hat sich für den Typ Mädchenschwarm entschieden: Lasse im bunten Pulli, auf dem Kopf ein lässiger schwarzer Hut, echter Zauberkünstler, ab jetzt das Mega-Talent! Weil er so elegant Feuerbälle jongliert. Vor allem aber weil er eine so berührende Lebensgeschichte erzählt. Im Gefängnis habe er bereits gesessen, war ganz unten und wolle jetzt endlich seinen Traum leben: berühmt sein.

Und so die ganze Wahrheit zum Schluss: Nur wenn die Fernsehproduzenten dich und deine Geschichte richtig in Szene setzen können, wirst du Castingsstar. Nicht das Talent zählt, sondern das ganze Paket. Egal, ob bei RTL oder in Kiel.

Dieser Artikel ist in der scout-Ausgabe 2_2012 erschienen.

Das könnte Sie auch interessieren: