Das ist verbindlich! Also, nur wenn du Lust hast …
Wie sicher bekommen Schüler*innen gelungene Medienkompetenzvermittlung an Schulen in Hamburg oder Schleswig-Holstein geboten? Gute Frage! Die Antwort ist – zwiespältig …
And the Winner is: „Flensburger Mediensecurity“! Das Land Schleswig-Holstein hat, gemeinsam mit dem Offenen Kanal, im Frühjahr zum zweiten Mal den „Medienkompetenzpreis SH“ an Initiativen aus dem Norden verliehen. Das „Peer-to-Peer“-Projekt, bei dem ältere Schüler*innen jüngeren Schüler*innen das kleine Einmaleins der sicheren Mediennutzung beibringen, belegte in der Rubrik „Außerunterrichtliche Projekte“ den zweiten Platz. Yasmin S. (die heute auf ein berufliches Gymnasium in Flensburg geht), gehörte drei Jahre zum Team, bis zum Sommer 2020: „Ich habe in der achten Klasse begonnen, in fünften Klassen über Themen wie Datensicherheit und Cybermobbing aufzuklären.“ Die „Kleinen“ hören nämlich noch auf das, was die „Großen“ sagen.
Unsere Mediensecurity schult auch Lehrer und Eltern. Beide haben wenig Ahnung, was die kompetente Mediennutzung betrifft.
„Das ist sehr effektiv, das kommt an. Auch bei den Älteren, die nur noch mit den Augen rollen, wenn die Eltern etwas sagen“, berichtet Lehrer Janosch Lumme, der zur Steuerungsgruppe des Projekts gehört. Die Mediensecurity schult auch Lehrer*innen, Eltern ebenfalls. „Beide haben wenig Ahnung, was die kompetente Mediennutzung betrifft“, sagt Yasmin. Ein Beispiel: „Wir waren in einer Grundschule für einen Termin mit Schülern aus vierten Klassen. Auf dem Schulhof sang eine Gruppe Kinder dann Lieder mit pornografischen Texten, die sie von YouTube kannten. Ob Erwachsene das mitbekommen haben? Ich glaube eher nicht.“ Yasmins Erfahrungen mit Medienkompetenz an Schulen: Die meisten Schüler*innen haben wenig Ahnung. Viele Lehrer*innen haben wenig Ahnung. Ein Großteil der Eltern hat keine Ahnung. Das muss man erst mal sacken lassen. Doch ist es vielleicht nur eine „Einzelmeinung“?
Zweifel an der Medienkompetenzvermittlung in Schulen sind ein Dauerbrenner. Ein Rückblick: Im Jahr 2015 haben wir im scout-Magazin zwei Medienkompetenz-Professoren miteinander sprechen lassen, Christian Filk aus Flensburg und Rudolf Kammerl aus Hamburg (heute Erlangen). Die beiden berichteten vom großen Gefälle innerhalb des Stadtstaats und innerhalb des Landes zwischen den Meeren, was die Medienerziehung betraf. Das reichte von ausgeklügelten „Medienprofilen“ an der einen Schule bis zu „völligen Fehlanzeige“ an der anderen. In der Ausbildung von Lehrer*innen wurden derlei Inhalte nur an der Uni Flensburg verbindlich vermittelt, anderswo konnten alle zukünftigen Lehrer*innen, die keine Lust darauf hatten oder keinen Sinn darin sahen, das leicht umgehen.
Wenn wir heute Änderungen bei der Ausbildung vornehmen, dann dauert das schon mal fünf bis sieben Jahre, bis die mit den neuen Kollegen in den Schulen ankommen.
Dabei gibt es seit 2016 eine „Strategie“ der Kultusministerkonferenz namens „Bildung in der digitalen Welt“, ein Handlungskonzept mit Zielvorstellungen, „um die Bildung im Kontext der Digitalisierung weiterzuentwickeln“. Es wurde von vielen als eine Art „Medienkompetenz-Evangelium“ begrüßt. Doch Bildungssysteme sind ein bisschen wie die großen Containerschiffe: Die brauchen viel Zeit, um in Fahrt zu kommen, wenn sie einen neuen Kurs einschlagen wollen. „Wenn wir heute Änderungen bei der Ausbildung vornehmen, dann dauert das schon mal fünf bis sieben Jahre, bis die mit den neuen Kollegen in den Schulen ankommen“, sagt Christian Filk im Jahr 2021. Und das heiße dann noch lange nicht, dass die gestandene Lehrer*innenschaft auch sofort Neuerungen mittragen wolle.
Um noch einmal kurz zu umreißen, worum es geht: Der kompetente Umgang mit Medien soll Kinder und Jugendliche befähigen, an unserer Wissensgesellschaft teilzuhaben. Sie sollen Vorteile nutzen können, ohne über die Risiken zu stolpern. Es geht also auch um „Prävention“ gegen viele verschiedene Interaktionen, welche die gesunde Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen könnten: kritische Inhalte (Pornografie, Gewalt), Cybermobbing, Datenklau. Eine weitere Dimension der Medienkompetenz ist der kreative Umgang mit Medien: Kinder sollen lernen, sich vom „Konsumenten“ zum „Produzenten“ zu entwickeln.
In der Strategie der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ sind diese Elemente enthalten – neben Kompetenzen wie „Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren“ und „Produzieren und Präsentieren“, die ja eher eine deutliche Ausrichtung zeigen auf nützliche Fertigkeiten für eine künftige Berufstätigkeit. Nur die Dimension „Schützen und sicher Agieren“ umfasst den wichtigen Jugendschutz-Aspekt der Medienkompetenz. Doch diese feineren Schattierungen der 60-seitigen Stellungnahme scheinen in der seitdem anhaltenden (und durch Corona noch einmal extrem beschleunigten) Digitalisierungs-Debatte irgendwo auf der Strecke abhandengekommen zu sein.
„Es gibt da den Kardinalfehler“, sagt Christian Filk: „Die Politik verwechselt oft das Lernen mit Medien mit dem Lernen über Medien.“ Man wirft 6,5 Milliarden Euro aus dem Digitalpakt über deutschen Schulen ab und glaubt, sehr viel für Medienkompetenz getan zu haben. Das Geld ist verteilt. Aber auch die richtige Haltung? Hamburg zum Beispiel ist sehr stolz drauf, die Anzahl der staatlichen Schulen mit WLAN in den Unterrichtsräumen von März 2020 bis Ende 2020 von 61 auf 266 mehr als vervierfacht zu haben. Es ist ein bisschen so, als würde man laut rufen: „In allen Schulen gibt es jetzt auch fließendes Wasser!“
Fragt man die Politik in Hamburg und Schleswig-Holstein, so sind Medienkompetenzthemen „querschnitthaft“ in den Bildungsplänen verankert, es wird auf Medienscout-Projekte (wie die in Flensburg) verwiesen, auf „130 Modellschulen“ (Schleswig-Holstein), auf die (von der Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein angetriebene) Initiative des Internet-ABC (www.internet-abc.de) für zertifizierte Grundschulen im Stadtstaat und im Bundesland. Die offizielle Darstellung lautet verkürzt und sinngemäß: „Keine Bange, es ist ein wichtiges Thema, wir kümmern uns in allen Bereichen darum!“
Manchmal weiß die linke Hand dann nicht, was die rechte tut: So kann es sein, dass die Hamburger Schulbehörde auf Nachfrage von scout äußert, alle Schulen müssten regelhaft die Kompetenz der „Medienscouts“ nutzen. Später heißt es dann: Nein, sie könnten das. Wirklich verbindlich ist in Hamburg nur der „Medienpass“ für die Klassen fünf bis acht, mit fünf Modulen von Datenschutz bis Cybermobbing, die in jeweils drei Unterrichtsstunden abzuhandeln sind. Die Schulen erhalten viel Freiheit bei der Umsetzung. Ob umgesetzt wird, wird nicht regelhaft überprüft. Und in Schleswig-Holstein? Es spricht vieles dafür, dass die Lage dort nicht unbedingt besser ist als in Hamburg.
Aber wie sieht es wirklich aus in der Fläche, in den Stadt- und Ortsteilen, in Schleswig-Holstein (mit seinen 792 Schulen, Stand 2019/20) und Hamburg (411 Schulen)? Wer das genau wissen möchte, müsste sich einmal quer durch den Norden quatschen, mit Lehrern*innen, Eltern, Schulsozialarbeiter*innen und Medienpädagog*innen. Wir haben für diesen Artikel mit ausreichend vielen Personen gesprochen, um uns zumindest ein Bild zu machen. Es kann nicht so detailliert sein wie ein Foto. Aber hoffentlich, wie ein Holzschnitt, die typischen Umrisse zeigen.
Was ist typisch? Lars Rohwedder ist im Nordwesten Hamburgs im Kreiselternrat tätig. Der Informatiker beobachtet eine „Dreiteilung“ in den Schulen, die er von seiner ehrenamtlichen Arbeit kennt: „Ein Teil der Lehrer macht es gut und hat Lust drauf. Ein weiterer ist unsicher, aber für Hilfe und Anregung von außen – auch von Eltern – durchaus dankbar. Auf genau die müssen wir uns konzentrieren, wenn wir Lehrer aktivieren wollen. Hier ist der größte Wandel möglich.“ Den dritten Teil sieht er als „standhafte Verweigerer“, aber auch da habe er Hoffnung, „dass die irgendwann auf ihre Kollegen schauen, die mit weniger Aufwand besseren Unterricht machen, und dann vielleicht doch neugierig werden.“
Natürlich gibt es viele Schulen, die Medienerziehung vorbildlich betreiben. Zum Beispiel die Adolph-Schönfelder-Schule in Hamburgs Osten, wo Lehrerin Claudia Spatz schon seit über fünfzehn Jahren ein digitales Netz spinnt. Zuerst mit dem Hausmeister und einem IT-affinen Kollegen. „Alle redeten schon damals von Digitalisierung. Ich habe gedacht: Dann muss man auch was machen!“ Frau Spatz sorgte später dafür, dass ihre Grundschule als eine der ersten in Hamburg als „Internet-ABC-Schule“ zertifiziert wurde, in der die Schüler*innen in den Klassen drei und vier erstes Know-how einer sicheren Mediennutzung erlernen.
Es ist überhaupt keine Frage, ob Medienbildung fest in allen Grundschulen verankert werden sollte. Wir müssen wirklich alle mit ins Boot holen.
Ob gelungene Medienerziehung vor Ort stattfindet ist weiterhin sehr stark von den jeweiligen Lehrkräften abhängig, befürchte ist.
„Wir haben dann zusätzlich ein Medientagebuch für die Viertklässler eingeführt“, erzählt die Medienverantwortliche. Einmal pro Woche nähern sich die Schüler*innen spielerisch Themen wie Datenschutz, „rechter Mausklick“ und Netzrecherche. Während der vergangenen Jahre habe sich enorm viel getan, sagt Claudia Spatz: „Es gibt einfach mehr Kollegen, die an einem Strang ziehen. Und die Unterstützung durch die Schulbehörde ist inzwischen sehr gut geworden.“ Wenn die Lehrerin eine neue Lern-App auf dem gesamten Satz von 150 Schul-Tablets haben möchte – dann wird das, schwupps, übers Wochenende per Fernwartung bereitgestellt. „Das funktioniert ziemlich reibungslos. Natürlich klappt auch mal was nicht. Dann sage ich zu den Kollegen: ‚Die entsprechenden Stellen und ich arbeiten mit Hochdruck daran!‘“ Für Lehrerin Spatz ist es überhaupt keine Frage, dass Medienbildung fest in allen Grundschulen verankert werden sollte: „Wir müssen wirklich alle mit ins Boot holen!“ Eine von vielen Lehrer*innen hervorgehobene positive und als besonders wichtig empfundene Entwicklung ist, dass sich die Weiterbildung in Hamburg und Schleswig-Holstein rund um Medien- und Digitalisierungsthemen sehr stark ausgeweitet hat. Das sei auch Corona geschuldet, sagen sie. Doch zuvor traten erst einmal jede Menge Probleme auf: Einerseits hatten viele Schulen erheblichen Nachholbedarf in Fragen der Vernetzung und der Lernsoftware-Bedienung. Andererseits taten sich in Zoom-Klassen-Konferenzen auch handfeste Daten- und Jugendschutzhemen auf. Seitdem boomen die Weiterbildungen. Aber ist das genug? Klaas Bröcker, Fachschaftsleiter „Medien“ an der Emil-Nolde-Grundschule in Bargteheide, ist ein „Medienkompetenz-Veteran“ (seine Schule nennt sich seit 2005 „Medienschule“, später wurde sie als „Modellschule Lernen mit digitalen Medien“ ausgezeichnet). Er plädiert für den „steten Tropfen“: „Mal eine Stunde Unterricht zum Thema, das reicht nicht. Wir brauchen keine Vorspeisen mehr, sondern gehaltvolle Menüs.“ Er fürchtet, dass auch im Jahr 2021 noch die Kammerl-Filk-Analyse des großen Gefälles gilt: „Ob gelungene Medienerziehung vor Ort stattfindet, ist weiterhin sehr stark von den jeweiligen Lehrkräften abhängig, fürchte ich.“
Wie Medienerziehung in ein Konzept der Digitalisierung einer Schule integriert werden kann, zeigt das Küstengymnasium in Neustadt. 2004 wurde mit „Laptopklassen“ gestartet, schon seit vielen Jahren werden Unterrichtsplanung, Hausaufgaben und sogar Prüfungen online abgewickelt. Schüler*innen dürfen ihre eigenen Endgeräte mitbringen. Frontalunterricht ist Vergangenheit, Schüler*innen können in kleinen Gruppen in Rückzugsräumen arbeiten, Nutzung des Internets inklusive. „Das Netz ist durch Jugendschutzsoftware abgesichert, wir haben gemeinsam mit den Schülern klare Mediennutzungsvereinbarungen entworfen, die ab Klasse fünf gelten“, erzählt Ralf Hübner, stellvertretender Schuldirektor. Erstaunlicherweise kommt es kaum zu digitalen Zwischenfällen: Cybermobbing? Weitgehend Fehlanzeige! Gewaltdarstellungen oder Pornografie im Klassenchat? So gut wie unbekannt!
Unser Schulnetz ist durch Jugendschutzsoftware abgesichert, wir haben gemeinsam mit den Schülern klare Mediennutzungsvereinbarungen entworfen, die ab Klasse fünf gelten.
Hübners Erklärung: Von Klasse fünf bis Klasse zwölf gehe den Schüler*innen der verantwortungsbewusste Umgang quasi in Fleisch und Blut über: „Sie wissen, dass ihr Handeln beobachtet wird. Und am Ende des Tages nimmt die Attraktivität von Handy und Laptop ab, wenn man sie schon den ganzen Tag über in der Schule nutzt.“ Das Konzept des Küstengymnasiums zieht: Die Schule wächst und wächst, bekommt in den kommenden Jahren einen Neubau, der sich ganz auf die Bedürfnisse digitalen Lernens ausrichten wird. Die Schule konnte im Übrigen während Corona den Unterricht von Anfang an vergleichsweise reibungslos weiterführen, neun von zehn Schüler*innen zeigten sich bei einer Umfrage zufrieden.
Wie lange wird es brauchen, bis alle Schulen im Norden sich so klar ausrichten wie die drei beschriebenen? Das weiß wohl keiner. Aber Eltern können wichtige Anstöße geben, um den Prozess zu beschleunigen. Zum Beispiel bei der Schulwahl ganz kritisch nach den Medienkonzepten fragen: Gibt es das Internet-ABC – oder gibt es Pläne, das einzuführen? Gibt es Medienunterricht? Wie wird der Medienpass umgesetzt? Wurden Medien- scouts für die Schule ausgebildet? Sind Medien-
Elternabende geplant? Auch die Elternvertretungen können mehr Druck machen oder neue Initiativen anstoßen.
Aber das alles wird nicht reichen, wenn die Bildungspolitik im Norden nicht endlich damit anfängt, die 2016 bedruckten sechzig Seiten zur „Bildung in der digitalen Welt“ noch einmal gründlich zu lesen – und dann das Evangelium der Medienkompetenz auch wirklich in die Schulen zu tragen.